Es sind Fernsehbilder, die am Montag ganz Südkorea zu Tränen gerührt haben: Wenn etwa der 101-jährige Baek Seong-gyu im Rollstuhl zum ersten Mal auf seine Enkeltochter aus Nordkorea trifft und stolz von seinen mitgebrachten Geschenken für die lange vermissten Verwandten spricht: "Ich habe extra viel mitgebracht, schließlich werden wir uns zum letzten Mal sehen."
Diese Woche haben die ersten Familienzusammenführungen auf der koreanischen Halbinsel seit über drei Jahren stattgefunden: Laut Schätzungen sind rund 700.000 Koreaner während des Koreakriegs (1950–1953) vor dem Einmarsch der kommunistischen Truppen Richtung Süden geflohen. Viele Familienangehörige fanden sich während der Wirren unverhofft auf unterschiedlichen Seiten der entmilitarisierten Zone wieder, die die beiden Koreas seit über 65 Jahren trennt.
Für 89 Südkoreaner, ausgewählt von einem Computeralgorithmus aus 57.000 Bewerbern, gab es am Montag die Möglichkeit zu einem letzten Wiedersehen: Entlang der Küstenstadt Sokcho überquerten die Senioren in Reisebussen die innerkoreanische Grenze und fanden sich in einem riesigen Ferienressort im malerischen Diamantengebirge ein.
Errichtet wurde das Hotel während der Sonnenscheinpolitik nach 2000 vom verstorbenen Hyundai-Konzerngründer Chung Ju-yung, der einst selbst im Norden geboren wurde. Jährlich besuchten es zehntausende südkoreanische Touristen – bis 2008 nordkoreanische Soldaten eine Wanderin beim Betreten von militärischem Sperrgebiet erschossen. Seitdem liegt das innerkoreanische Tourismusprojekt brach.
Tauwetter nach Gipfeltreffen
Während des Gipfeltreffens zwischen Südkoreas Präsidenten Moon Jae-in und Nordkoreas Machthaber Kim Jong-un haben beide Seiten vereinbart, die Familientreffen rasch wiederaufnehmen zu wollen. Viel mehr als ein Wermutstropfen für die Generation des Krieges ist das Versprechen nicht. Für die meisten Betroffenen kommen die Familienzusammenführungen nämlich ohnehin zu spät: Von insgesamt 130.000 Bewerbern aus dem Jahr 2000 sind weniger als die Hälfte noch am Leben. Die große Mehrheit von ihnen wird sterben, ehe sie sich ein letztes Mal von ihren Familienmitgliedern im Norden verabschieden können.
Und selbst für die Teilnehmer halten die Familienzusammenführungen bittere Enttäuschungen bereit: Fernsehteams und omnipräsente Aufpasser aus Nordkorea erschweren jegliche Intimität.
Teilnehmer früherer Zusammenführungen berichten von Erfahrungen der Entfremdung, nachdem ihre Verwandten während der Gespräche ständig und überall ihren "geliebten Führer Kim Jong-un" gepriesen haben. Ob sie die Wahrheit über ihr Leben in Nordkorea erzählen oder aus politischem Druck ein geschöntes Propagandabild zeichnen? Ihre südkoreanischen Angehörigen werden es wohl nie erfahren.
Insofern rufen die Treffen vor allem die Unmenschlichkeit des nordkoreanischen Systems in Erinnerung: Das Regime in Pjöngjang schottet seine Bevölkerung systematisch von der Außenwelt ab, beschneidet deren Bewegungsfreiheit und Zugang zum Internet. Zudem verhindert es auch das Zustandekommen regelmäßiger Familienzusammenführungen – weil es sie stets an Gegenleistungen und Vorbedingungen geknüpft hat. Die vom Koreakrieg getrennten Familien waren für die Kim-Familie zuallererst politischen Geiseln.
Emotionale TV-Bilder
Und dennoch sorgen die Fernsehbilder dafür, dass sich die Wahrnehmung der Südkoreaner von Nordkorea weiter verbessern wird. Laut einer aktuellen Umfrage antworten etwa 20 Prozent aller Befragten, Sympathien für Nordkorea zu hegen. Im Vorjahr war es nur ein knappes Zehntel. Zugleich gaben nur 20 Prozent der Südkoreaner an, dass die koreanische Halbinsel wiedervereinigt werden sollte. Noch nie war dieser Wert so gering – besonders in der Altersgruppe der unter 29-Jährigen. Eine Wiedervereinigung wird von ihnen in Zeiten hoher Jugendarbeitslosigkeit vor allem als wirtschaftliche Last empfunden. Jene Generation, die sich noch an Korea als vereintes Land erinnern kann, ist im Aussterben begriffen. (Fabian Kretschmer aus Seoul, 20.8.2018)