Uri Avnery vor einem Bild von sich und PLO-Chef Jassir Arafat. In Nordrhein-Westfalen als Helmut Ostermann geboren, ist er unter neuem Namen in Palästina zu einem bedeutenden Intellektuellen geworden. Am Montag ist Avnery in Tel Aviv verstorben.

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Vor Jahren hatte ich eine freundliche Unterredung mit Ariel Sharon. Ich sagte ihm: "Ich bin vor allem ein Israeli. Und erst dann ein Jude." Er antwortete aufgeregt: "Ich bin zuerst Jude und dann Israeli."

Das mag wie eine abstrakte Debatte erscheinen, in Wirklichkeit ist es aber der Kern aller unserer grundlegenden Probleme. Es ist der Kern der Krise, die Israel spaltet. Der unmittelbare Grund für diese Krise ist jenes Gesetz, das zuletzt hastig von der rechten Mehrheit in der Knesset beschlossen wurde. Es nennt sich "Grundgesetz: Israel, der Nationalstaat des jüdischen Volkes".

Dabei handelt es sich um ein Verfassungsgesetz. Als Israel während des Krieges von 1948 gegründet wurde, gab sich der Staat keine Verfassung. Es gab ein Problem mit der orthodoxen Gemeinde, die eine gemeinsame Erklärung verhinderte. Also las David Ben-Gurion eine "Unabhängigkeitserklärung" vor, die ankündigte, dass "wir einen jüdischen Staat gründen, nämlich den Staat Israel".

Diese Erklärung wurde nicht Gesetz. Der Oberste Gerichtshof adaptierte ihre Prinzipien ohne legale Basis. Das neue Dokument allerdings ist bindendes Gesetz.

Was ist also neu an diesem Gesetz, das auf den ersten Blick wie eine Kopie der Unabhängigkeitserklärung aussieht? Es gibt zwei wichtige Auslassungen: Die Unabhängigkeitserklärung beschreibt einen "jüdischen und demokratischen" Staat und verspricht völlige Gleichberechtigung aller seiner Bürger ohne Rücksicht auf Religion, Herkunft und Geschlecht. Das ist nun verschwunden. Keine Demokratie. Keine Gleichheit. Ein Staat von Juden, für Juden, durch Juden.

Die Ersten, die sich dagegen wehrten, waren die Drusen. Sie sind eine kleine, eng verbundene Minderheit. Sie senden ihre Söhne zur israelischen Armee und Polizei und verstehen sich als "Blutsbrüder". Plötzlich sehen sie sich all ihrer Rechte und ihres Zugehörigkeitssinnes beraubt. (...)

Drusen und Araber

Das Gesetz ignoriert zudem komplett jene 1,8 Millionen Araber (Beduinen und Christen inklusive), die israelische Staatsbürger sind. Die arabische Sprache, bisher eine von zwei offiziellen Sprachen, hat inzwischen "speziellen Status", was immer das heißen mag. (All das gilt für Israel, aber nicht für die besetzten Gebiete, in denen die fünf Millionen Araber keine Rechte haben.) Netanjahu verteidigt das Gesetz gegen Kritik von innen wie ein Löwe. Er hat öffentlich alle jüdischen Kritiker des Gesetzes als Linke oder Verräter deklariert, die "vergessen haben, dass sie Juden sind".

Genau das ist der Punkt. Vor Jahren haben meine Freunde und ich den Obersten Gerichtshof angerufen, weil wir unsere Nationalität von "jüdisch" auf "israelisch" ändern wollten. Das offizielle Register anerkennt beinahe einhundert Nationen, eine israelische ist nicht darunter.

Diese sonderbare Situation ist mit der Geburt des Zionismus im späten 19. Jahrhundert entstanden. Der war eine jüdische Bewegung – gegründet, um die jüdische Frage zu lösen. Die Siedler in Palästina waren jüdisch. Das ganze Projekt war eng mir der jüdischen Tradition verbunden.

Als eine zweite Generation von Siedlern heranwuchs, fühlten diese sich unwohl mit einem bloßen Jüdischsein, so wie die Juden in Brooklyn oder Krakau. Sie fühlten sich neu, anders, speziell.

Nicht Juden, Hebräer

Am extremsten war eine kleine Gruppe von jungen Poeten und Künstlern, die 1941 eine Organisation namens "die Kanaaniten" begründeten und erklärten, sie seien eine neue, eine hebräische Nation. In ihrem Enthusiasmus behaupteten sie sogar, dass sie nichts mit den Juden im Ausland zu tun hätten und dass es keine arabische Nation gebe – nur Hebräer, die den islamischen Glauben angenommen hätten.

Als der Holocaust bekannt wurde, gerieten die Kanaaniten in Vergessenheit. Alle wurden zu reumütigen Superjuden – und irgendwie doch nicht. Ohne bewusste Entscheidung hat meine Generation in ihrer Sprache die folgende Unterscheidung angenommen: jüdische Diaspora und hebräische Landwirtschaft; jüdische Geschichte und hebräische Bataillone; jüdische Religion und hebräische Sprache.

Als die Briten hier waren, habe ich an dutzenden Demos teilgenommen und geschrien: "Freie Einwanderung! Hebräischer Staat!" Ich kann mich an keine Kundgebung erinnern, bei der wir "Jüdischer Staat!" gebrüllt hätten.

Warum spricht die Unabhängigkeitserklärung vom "jüdischen Staat"? Ganz einfach: Sie bezog sich auf die UN-Deklaration, die Palästina in einen arabischen und einen jüdischen Staat teilte. Die Gründer hielten schlicht fest, dass sie nun diesen jüdischen Staat aufzubauen begannen. (...)

Es gab eine große Immigration aus der arabischen Welt und aus Osteuropa in den frühen 1950ern – auf jeden Hebräer kamen zwei, drei oder vier neue Einwanderer, die sich selbst als Juden begriffen. Man war auf die Finanzhilfen von Juden aus dem Ausland, speziell den USA, angewiesen. (...) Dazu gab (und gibt!) es eine rigorose Regierungspolitik, alles und jedes zu judaisieren. Die gegenwärtige Regierung hat diese auf die Spitze getrieben. Aktive, ja rasende Aktionen versuchen, die Bildung, die Kultur und den Sport zu judaisieren. Orthodoxe Juden, eine kleine Minderheit in Israel, üben dabei immensen Einfluss aus. Ihre Stimmen sind für die Netanjahu-Regierung essenziell.

Als der Staat Israel gegründet wurde, wurde der Begriff hebräisch durch den Begriff israelisch ersetzt. Hebräisch ist heute nur noch eine Sprache. Aber gibt es eine israelische Nation? Natürlich. Und gibt es eine jüdische Nation? Nein, natürlich nicht. Juden sind Mitglieder einer ethnisch-religiösen Gruppe, die auf die ganze Welt verteilt ist und zu vielen Nationen gehört, zugleich aber eine starke Affinität zu Israel verspürt. Wir in diesem Land gehören zur israelischen Nation, deren hebräische Mitglieder jüdisch sind.

Es ist entscheidend, dass wir das anerkennen. Denn es bestimmt unsere Perspektive. Sehen wir auf jüdische Zentren wie New York, London, Paris und Berlin, oder sehen wir auf unsere Nachbarn Damaskus, Beirut und Kairo? Sind wir Teil einer Region, die von Arabern bewohnt wird? Realisieren wir, dass Frieden mit den Arabern und speziell den Palästinensern die Hauptaufgabe dieser Generation ist?

Frieden suchen

Wir sind keine vorübergehenden Mieter dieses Landes, bereit jederzeit zu gehen und zu unseren jüdischen Brüder und Schwestern rund um die Welt zu ziehen. Wir gehören zu diesem Land und werden für viele Generationen hier leben. Deshalb müssen wir friedliche Nachbarn in dieser "semitischen Region" werden.

Das neue, ganz klar halbfaschistische Gesetz zeigt, wie dringend diese Debatte ist. Wir müssen entscheiden, wer wir sind, was wir wollen und wohin wir gehören. Oder wir werden zu einem permanenten Status der Unstetigkeit verdammt sein. (Uri Avnery, 20.8.2018)