Er heißt heute Turkana-See, doch fast hundert Jahre lang war er nach dem österreichischen Kronprinzen Rudolf benannt. 1887 hatte der Forschungsreisende Graf Teleki gemeinsam mit Ludwig von Höhnel das Gewässer in Ostafrika erreicht und es kurzerhand Rudolf-See getauft. Nach der Unabhängigkeit Kenias erhielt der See seinen heute gültigen Namen, der sich von der größten in der Gegend ansässigen Volksgruppe herleitet.

Rund um den Turkana-See, der gut zehnmal so groß ist wie der Bodensee und 1997 in die Liste des Unesco-Weltkulturerbes aufgenommen wurde, gibt es zahlreiche Ausgrabungsstätten: Die Gegend gilt als eine der Wiegen der Menschheit. In der Formation, die sich Lothagam nennt, fand man etwa den ersten Homo rudolfensis, der vermutlich vor rund zwei Millionen Jahren lebte und als einer der ersten Vertreter der Gattung Homo gilt.

5.000 Jahre alte Friedhöfe

Doch rund um den See gibt es auch einige menschliche Zeugnisse aus sehr viel jüngerer Zeit, die erst vor kurzem entdeckt wurden: bis zu 5.000 Jahre alte steinzeitliche Monumentalgräber, die damals von frühen Viehzüchtern angelegt worden sein dürften. Diese Bauwerke dürften die größten Bauwerke sein, die in dieser Zeit in Ostafrika angelegt wurden.

Luftbildaufnahmen der Monumentalgräber vom Turkana-See sowie des Sees.
Foto: Elisabeth Hildebrand et al. 2018, PNAS

Diese Begräbnisstätten bildeten eine Art Gemeinschaftsfriedhof, der über einen Zeitraum von 700 Jahren errichtet und genutzt wurde, wie ein internationales Forscherteam um Elisabeth Hildebrand von der Stony Brook University (US-Bundesstaat New York) herausgefunden hat. Die Bewohner der Gegend bauten Plattformen mit einem Durchmesser von etwa 30 Metern und gruben einen großen Hohlraum in der Mitte, um darin ihre Toten zu begraben.

Die vor mehr als 4.300 Jahren errichteten Plattformen, in deren Mitte sich die Massengräber befinden.
Foto: Katherine Grillo

Nachdem der Hohlraum gefüllt und mit Steinen verkleidet war, stellten die Bauherren große, teilweise aus einem Kilometer Entfernung stammende Megalith-Säulen auf. In der Nähe wurden Steinkreise und Steinhaufen hinzugefügt. Schätzungsweise mindestens 580 Personen wurden in der zentralen Plattformhöhle des Geländes vergraben – und zwar Männer ebenso wie Frauen und Kinder jeden Alters.

Zusätzlich wurden so gut wie alle Personen mit persönlichem Schmuck begraben, und die Verteilung der Schmuckstücke (bemalte Steinchen, Ohrringe und Ähnliches) war auf dem gesamten Friedhof für alle Personen annähernd gleich. Diese Faktoren deuten auf eine relativ egalitäre Gesellschaft ohne starke soziale Schichtung hin.

Einige der in den Grabhöhlen gefundenen Schmuckstücke wie Ohrringe.
Foto: Carla Klehm

Widersprüche zur Theorie

Diese Befunde widersprechen damit indirekt freilich allen bisherigen Theorien über frühe komplexe Gesellschaften und Hochkulturen, die solche Großbauten errichteten. Denn Prähistoriker und Archäologen gingen bis jetzt davon aus, dass eine hierarchische Gesellschaftsordnung – wie etwa bei den alten Ägyptern zur selben Zeit – Voraussetzung dafür ist, den Bau großer Gebäude oder Denkmäler (beispielsweise der Pyramiden) zu ermöglichen. Kurz gesagt: Bauten dieser Art galten bisher als verlässliche Indikatoren für komplexe Gesellschaften.

Der Friedhof von Nord-Lothagam wurde jedoch ziemlich sicher von nomadischen Viehzüchtern errichtet, die ohne soziale Hierarchie auskamen. "Diese Entdeckung stellt frühere Vorstellungen von Großbauten infrage", erklärt Koautorin Elizabeth Sawchuk von der Stony Brook University und dem Max-Planck-Institut (MPI) für Menschheitsgeschichte in Jena. Bleibt die Frage, warum die Bewohner der Gegend um den Turkana-See diese riesigen Anlagen errichtet haben.

Orientierung in schwierigen Zeiten

Die Forscher gehen im Fachblatt "PNAS" davon aus, dass die Monumentalgräber in einer Zeit tiefgreifender Veränderungen entstanden sind. Die Viehzucht war vor 5.000 Jahren ganz neu im Turkana-Becken, und die Neuankömmlinge, die mit Schafen, Ziegen und Rindern hier ankamen, trafen auf verschiedene Gruppen von Fischern, Jägern und Sammlern, die bereits am See gelebt hatten. Beide Gruppen sahen sich damals mit einer schwierigen Umweltsituation konfrontiert, so die Forscher, da die jährlichen Niederschläge in diesem Zeitraum zurückgingen und der Turkana-See um bis zu fünfzig Prozent schrumpfte.

Hildebrand und ihre Kollegen vermuten daher, dass der Friedhof als Ort gebaut wurde, an dem Menschen zusammenkamen, um mit Riten die Gemeinschaft zu festigen und so den wirtschaftlichen und ökologischen Veränderungen besser trotzen zu können. "Informationsaustausch und Interaktion durch gemeinsame Rituale könnten den Hirten geholfen haben, sich in einer sich schnell verändernden Landschaft zurechtzufinden", meint Koautorin Anneke Janzen vom MPI in Jena.

Und warum war vor 4.300 Jahren dann Schluss mit den Monumentalgräbern? Die Forscher vermuten, dass sich die Viehzucht etablierte und sich der Seespiegel stabilisierte. Ab dieser Zeit wurde der Friedhof wahrscheinlich auch nicht mehr genutzt – weil die Menschen keinen Bedarf mehr hatten, sich mit gemeinsamen Ritualen gegen die Unbill der Natur zu wappnen. (Klaus Taschwer, 21.8.2018)