Was nutzt es, sich Österreich ohne Migranten vorzustellen? Wozu dieses Gedankenspiel, das der Philosoph Konrad Liessmann im Standard-Gespräch als "fiktionale Szenerie" und "Spekulation" bezeichnet? Und warum zum Auftakt eines Migrationsreports?

Weil man komplexe Phänomene am besten versteht, wenn man sie sich wegdenkt und die Lücke, die deren Abwesenheit hinterlässt, betrachtet. Wer sich ein Österreich ohne Migranten vorstellt, erkennt die Folgen einer Abschottungspolitik für eine moderne Gesellschaft – mit allen Licht- und Schattenseiten.

Österreich ohne Migranten: Das wäre ein weitaus weniger bevölkertes Land, als es heute ist. Ein Land, in dem Touristiker und andere Unternehmer noch weit händeringender als heute Personal suchen würden. Außerhalb der Tourismussaisonen wären viele Städte und Dörfer vereinsamt: die Folge einer geringen Bewohnerdichte. Auf dem Land wäre die Infrastruktur wohl extrem schwach: Weniger Menschen brauchen weniger Supermärkte und andere Nahversorger, auch wenn die Wege dorthin dann sehr weit wären.

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In Japan werden in der Altenpflege bereits seit Jahren Roboter eingesetzt.
Foto: REUTERS/Kim Kyung-Hoon

Auch bräuchte es weniger Kindergärten und Schulen als geriatrische Spitalsabteilungen sowie andere Pflegeeinrichtungen für alte Menschen. Auch dort wäre der Mangel an Krankenhaus- und Pflegepersonal dramatisch. Um ihn zu kompensieren, würde man wohl schon seit Jahren wie in Japan Pflegeroboter und andere technische Hilfen einsetzen.

Lange Arbeitszeiten

Für die Arbeitenden, unter ihnen viele Senioren und besonders viele Frauen, wären die Arbeitszeiten lang. Zwölfstundentage wären wohl keine Ausnahme. Ein beachtlicher Teil der Löhne würde in die Pensionsversicherung fließen. In anderen Bereichen hätte der Staat hingegen vergleichbar geringe Ausgaben. Etwa im Strafvollzug: In den Haftanstalten säßen relativ wenige Gefangene ein.

Das wäre Österreich – wenn es in den vergangenen 50 Jahren keine oder nur wenig Einwanderung gegeben hätte. Wenn die Gastarbeiter der 1960er- und frühen 1970er-Jahre ausgeblieben oder wie ursprünglich geplant in ihre Heimatländer zurückgegangen wären. Wenn der EU-Beitritt 1995 geplatzt wäre – oder aber die Verbote für Bürger mancher anderen Unionsstaaten, in Österreich zu arbeiten, nicht nur übergangsweise, sondern permanent gelten würden. Und wenn durch Abschottungsmaßnahmen sämtliche Fluchtbewegungen seit jener nach den Jugoslawienkriegen ausgeblieben wären, ganz oder fast.

Es wäre dies ein ziemlich anderes Land als das Österreich von heute, mit seinen im Jahr 2017 1.970.300 Bürgerinnen und Bürgern mit Migrationshintergrund: Damit sind Menschen mit einer anderen Staatsangehörigkeit oder Menschen, deren beide Elternteile in einem anderen Land geboren wurden, gemeint.

Mit dem realen Österreich des Jahres 2017 mit einem Migrantenanteil von 22,8 Prozent wäre es nicht zu verwechseln; mit jenem Staat, der sich bisher trotzdem nicht aufgeschwungen hat, auch offiziell eine Einwanderungsgesellschaft zu sein, und deren Regierung derzeit ganz im Gegenteil einiges unternimmt, um Druck auf Ausländer aufzubauen.

Der fiktionale Blick auf das Land ohne Migranten beginnt mit einer demografischen Betrachtung. Wie sähe die Bevölkerungsstruktur Österreichs ohne Gastarbeiter- und Flüchtlingszuzug und ohne EU-Binneneinwanderung aus? Das Land hätte weit weniger Bewohner als heute, und deren Zahl würde weiter schrumpfen, antwortet Alexander Hanika von der Statistik Austria.

Einwohnermäßig wachse Österreich derzeit "eindeutig nur durch Zuwanderung", sagt Hanika. Die Geburtenbilanz sei nur deshalb ausgeglichen, weil sich in den vergangenen Jahrzehnten Menschen niedergelassen hätten, die im Durchschnitt mehr Kinder bekämen als angestammte Österreicher – etwa Einwanderer aus Südosteuropa.

"Ohne Migration wäre die österreichische Bevölkerung in den vergangenen Jahrzehnten gealtert. Das Arbeitskräftepotenzial an Menschen zwischen 20 und 65 Jahren wäre stark gesunken", sagt der Demograf. Ohne weiteren Zuzug stehe eine solche Entwicklung auch in den kommenden Jahrzehnten ins Haus.

Eine Prognose der Statistik Austria für das Jahr 2080 unter der Annahme, dass sich ab sofort keine Ausländer mehr in Österreich ansiedeln, ergebe eine drastische Verringerung der Bevölkerungszahl, von 8.645.800 im Jahr 2017 auf rund 6.600.000 Menschen. "Aus demografischer Sicht war und ist Zuwanderung nach Österreich notwendig, um die Bevölkerungsstruktur abzufedern", resümiert Hanika.

Ein Land mit abnehmender Bevölkerungszahl steht wirtschaftlich anders da als ein Land mit immer mehr Bewohnern. Was hätte das Ausbleiben nennenswerter Zuwanderung nach Österreich in den vergangenen Jahrzehnten ökonomisch für Folgen gehabt? Die Wirtschaftsstruktur des Landes hätte sich ganz anders entwickelt, meint der Soziologe, Migrations- und Arbeitsmarkt experte August Gächter.

Weniger qualifizierte Jobs

"Vermutlich hätte es in diesem Fall keine Expansion der höheren Bildung gegeben, wie sie in Österreich ab den 1970er-Jahren stattfand", sagt Gächter: "Denn dann hätte es keine Migranten gegeben, um Hilfs- und Anlernarbeiten auszuüben." Die Folgen wären bis heute spürbar: "Die Innovationen der 1980er- und 1990er-Jahre wären nicht möglich gewesen. Heute produzieren rund 200 Betriebe Produkte, die sie zu Weltmarktführern machen. Diese Firmen gäbe es ohne die Migration nach Österreich nicht."

Gächters Argumentation: Vom Tourismus abgesehen sei im Österreich der 1960er-Jahre der Dienstleistungssektor schmal gewesen. Nur wenige Jobs hätten eine höhere, technische oder akademische Qualifikation verlangt: "Im Jahr 1971 gab es in ganz Vorarlberg nur 4000 Maturanten", nennt er ein Beispiel.

Stattdessen hätten Fabriksarbeit, die Baubranche sowie der Bergbau dominiert: Tätigkeiten, die in der Folge von den in den 1960er- und frühen 1970er-Jahren hauptsächlich in der Türkei und im damaligen Jugoslawien angeworbenen Gastarbeitern ausgeübt worden seien.

Insofern sei die Gastarbeiteranwerbung der Beginn einer "Verdrängung nach oben" für österreichische Arbeitskräfte gewesen, sagt Gächter. Die Einheimischen hätten sich vielfach durch Zusatzausbildungen an ihrer Arbeitsstelle qualifiziert. Ihre Kinder hätten höhere Schulen absolvieren sowie studieren können, der Wohlstand vieler habe zugenommen: für Österreich ein ohne Migration undenkbarer Entwicklungsschub.

Ohne Zuwanderung hätte es nicht zwingend eine "Verdrängung nach oben" für Österreicher geben müssen, sagt der Soziologe August Gächter.
Foto: STANDARD/Newald

Verzicht auf eineinhalb Gefängnisse

Philosoph Liessmann widerspricht an dieser Stelle. Die jüngere Geschichte Japans zeige, dass ein entwickeltes Land auch ohne nennenswerte Einwanderung wirtschaftlich reüssieren könne. "Japan hat sich bisher immer gegen Zuwanderung abgeschottet. Die Gesellschaft ist heute stark überaltert, die Geburtenrate eine der weltweit niedrigsten. Doch immer noch ist Toyota der global zweitgrößte Autohersteller und Japan ein Land technischer Innovation, etwa bei der Robotik", sagt er.

Natürlich gebe es in einer solchen Gesellschaft Verwerfungen. Der Leistungsdruck auf Kinder und Jugendliche als künftige Werktätige sei in Japan massiv, Senioren müssten bis ins hohe Alter arbeiten, der Pflegebedarf sei enorm. Auch fokussierten die politischen Diskurse sehr auf die Interessen von Senioren.

Doch, so Liessmann: "Weltweit zeigt sich, dass alternde Gesellschaft weniger Probleme als Gesellschaften mit Geburtenüberschüssen haben." Bezogen auf die Vision eines Österreich ohne Migranten bestätigt dies der Soziologe und Sicherheitsexperte für den Strafvollzug: "Laut einer Berechnung im Vorfeld der letzten Strafrechtsreform könnte man in Österreich auf eineinhalb Gefängnisse verzichten. Nicht weil Ausländer krimineller sind, sondern weil man sie rascher inhaftiert."

Wie jedoch hätte das Ausbleiben nennenswerter Migration in Österreich die hiesige Politik beeinflusst? Die Parteienlandschaft würde sich wohl von der derzeitigen ziemlich unterscheiden, meint der Politikwissenschafter Anton Pelinka.

FPÖ ohne Feindbild

"Die FPÖ hätte wahrscheinlich keinen derartigen Aufstieg erlebt. Es hätten die Flüchtlinge und Migranten als Feindbilder gefehlt, wie sie eine solche Partei für ihre Erfolge braucht", sagt Pelinka. Seine Sichtweise: In den 1980er-Jahren sei die Wirkkraft der alten freiheitlichen Feindbilder – "Juden, Amerikaner, Kommunisten" – im Schwinden begriffen gewesen. Dann jedoch habe der verstorbene FPÖ-Chef Jörg Haider das Asylthema als politisches Vehikel entdeckt; es dominiert die poli tische Auseinandersetzung bekanntlich bis heute.

Besser als derzeit würde es wiederum der SPÖ gehen, meint Pelinka. Ohne Konfrontation mit dem Thema Migration wäre ihr das Ringen mit einem zentralen ideologischen Widerspruch erspart geblieben: dem zwischen ihrem historischen Anspruch auf internationale Solidarität und jenem, vor allem die Interessen einheimischer Arbeitnehmer zu vertreten.

Ohne Zuwanderer wäre die FPÖ nicht groß geworden, sagt Politologe Anton Pelinka.
Foto: STANDARD/Corn

Wären die politischen Strukturen in Österreich in diesem Fall fortgesetzt traditionell? Das ein zuschätzen sei unmöglich, sagt Pelinka. Überhaupt sei die Vorstellung eines Österreichs ohne Migranten rein hypothetisch, betont auch der Soziologe, Politologe und Migrationsforscher Rainer Bauböck. Schon aufgrund seiner geografischen Lage hätte sich das Land der Dynamik in der EU nicht entziehen können – insbesondere was die Einreise ausländischer Unionsbürger betrifft. (Irene Brickner, 1.9.2018)