Salzburg – "Slawische" oder "Ungarische" Tänze wären bei einer Umfrage gut für Klischeepreise. Wie auch Kärntnerlied, Wiener Walzer oder Sirtaki. Wie wenig solche "Nationalmusiken" tatsächlich ihrem jeweiligen Klischee entsprechen, machte Sir Simon Rattle am Pult des London Symphony Orchestra beim Gastkonzert in Salzburg eindrücklich klar: Die Slawischen Tänze op. 72 von Antonín Dvorák ergaben in dieser Lesart eine delikate Suite vielgestaltiger Tänze, denen nichts Folkloristisches eignete. Zwar ließ Simon Rattle den ersten Tanz, einen geradtaktigen schnellen Hirtentanz, mit klingendem Spiel und federndem Übermut auffahren, doch schon mit dem zweiten Tanz, entfaltete er einen elegant sehnsuchtsvollen "Walzer", zu dessen Klängen Angehörige jeglichen Landes sich der Melancholie ergeben könnten.

Anti-Entspannung

Genauso wie mit Leonard Bernsteins The Age of Anxiety (Libretto: W. H. Auden) Menschen auf der ganzen Welt ihren Ängsten grauschwarze Klangfarben unterlegen könnten: Die Symphonie Nr. 2 für Klavier und Orchester ist eine Art Anti-Entspannungs-Musik, die sich besser keiner "reinzieht", der gerade innerlich weniger stabil ist. Mit Krystian Zimerman als Solist ergab sich Rattle mit beängstigender Intensität den düsteren Psychogrammen.

Höhepunkt war Leos Janáceks Sinfonietta op. 60 – das Lob auf die Stadt Brno. Es wäre nicht der Komponist einer Jenufa oder einer Sache Makropulos, klängen die Genrebilder tatsächlich nach "Ritterburg" oder "Klosterruhe". So ist etwa der zweite Satz, ein ursprünglich mit "Burg" betiteltes Andante, wohl mit auffahrendem Bläserklang ein wenig heldisch konnotiert. Tatsächlich war besagte Burg das Gefängnis wechselnder Herrscher. Enthusiastisch äußerte sich Janácek 1918 über die Befreiung von den Habsburgern. Der Krieg, der Bernsteins/Audens Charakteren in The Age of Anxiety zu schaffen macht, verdunkelte schon zehn Jahre nach Janáceks Tod 1928 wieder den "Strahl der Freiheit". (Heidemarie Klabacher, 22.8.2018)