Der britische Nobelpreisträger Sir Paul Nurse ist entschiedener Gegner des Brexits – wie die meisten britischen Wissenschafter.

Foto: Heribert Corn www.corn.at

Im Februar hatten zwei Wissenschafter von der Universität Cambridge die Nase voll. Sie waren empört über das gängige Vorurteil, dass "Brexiteers" – so werden die Briten genannt, die für den Austritt aus der Europäischen Union eintreten – einen eher niedrigen Intelligenzquotienten aufweisen.

Der Ökonom Graham Gudgin und der Historiker Robert Tombs gründeten die Onlineplattform "Briefing for Brexit". Auf der Website sollen Akademiker über die Vorteile des Austritts publizieren und damit demonstrieren, dass auch schlaue Menschen für eine Abkehr von der EU sind. Das Projekt wurde in der "Sunday Times" groß angekündigt, 38 bekannte Persönlichkeiten und Gelehrte gaben ihren Namen dafür her, ein "Pantheon von supersmarten Unterstützern", jubelte das Blatt.

Prompte Retourkutsche

Eine Woche später kam die Retourkutsche, ebenfalls in der "Sunday Times". "Sie haben berichtet", hieß es in einem Leserbrief, "dass 'nahezu 40' Akademiker sich zur Unterstützung des Brexits zusammengeschlossen haben. Wir möchten Sie wissen lassen, dass es viele mehr gibt, die der entgegengesetzten Ansicht sind." Unterschrieben war der Brief von 1406 Gelehrten, darunter einigen Nobelpreisträgern.

Die Episode illustriert, wie das Kräfteverhältnis an britischen Universitäten aussieht. Die überwältigende Mehrheit von Hochschullehrern lehnt den Brexit ab. Ein Jahr vor dem Referendum führte die "Campaign for Science and Engineering" eine Umfrage unter Wissenschaftern durch und fand heraus, dass über 90 Prozent der Ansicht waren, dass die Mitgliedschaft in der Europäischen Union einen bedeutenden Nutzen für die britische Forschung darstellt.

Besorgnis um Chaos-Ausstieg

Zwei Jahre nach dem Referendum wird britischen Gelehrten immer deutlicher, wie hoch die Kosten eines Brexits für Großbritannien werden können, vor allem für die Unis. "Ich bin sehr besorgt darüber", sagt die renommierte Biologin Anne Glover, "was Wissenschaft und Forschung widerfahren wird, wenn wir mit einem chaotischen Brexit, einem Brexit ohne Deal aussteigen."

In Sachen Wissenschaft hat Großbritannien aus der EU stets Profit geschlagen, denn es kommen mehr Fördergelder zurück, als London nach Brüssel überweist. Der Präsident der Royal Society und Nobelpreisträger Venki Ramakrishnan schätzt, dass die EU-Zuwendungen rund ein Zehntel der jährlichen Ausgaben für die Forschung ausmachen. "Ohne Deal", so der Biologe, "könnten wir rund eine Milliarde Pfund (rund 1,1 Milliarden Euro, Anm.) an EU-Forschungsfinanzierung verlieren."

Britische Unis als Nutznießer

Britische Universitäten zählen nach deutschen Hochschulen zu den größten Nutznießern von Horizon 2020, dem wichtigsten wissenschaftlichen Förderprogramm der EU, und haben seit Beginn 2013 rund 15 Prozent der EU-Fördergelder erhalten. Die britische Regierung versuchte, die Sorgen britischer Forscher zu zerstreuen, und versichert, dass man nach dem Austritt die Finanzierung sämtlicher Horizon-2020-Projekte garantieren werde. Doch wie es um die Teilnahme am Folgeprogramm Horizon Europe steht, ist zur Zeit völlig offen.

Fehlende Fördergelder sind nicht die einzige Sorge britischer Wissenschafter. Ramakrishnan sieht es als eine der schlimmsten Konsequenzen des Brexits, dass "unsere Fähigkeit gefährdet ist, mit den besten Wissenschaftern in der EU zu kollaborieren". Britische Universitäten könnten unattraktiv für kontinentale Kollegen werden. "Forschung ist international, und Ideen fließen frei durch die ganze Welt. Jeder sechste akademische Mitarbeiter ist aus der EU, und es gibt wenig Klarheit, was mit ihnen in einem No-Deal-Szenario passiert."

Ende der Freizügigkeit?

Auch Nobelpreisträger Sir Fraser Stoddart sieht in der möglichen Isolierung des Königreichs die größte Gefahr: "Wissenschaft ist eine Familie." Am wichtigsten sei die internationale Zusammenarbeit. Die Regierung hat bisher noch keine konkreten Vorschläge für die Personenfreizügigkeit nach dem Brexit – sehr zum Missfallen des Wissenschaftsausschusses des Parlaments.

Dessen Vorsitzender, der Unterhaus-Abgeordnete Norman Lamb, sieht "die reale Gefahr, dass die Wissenschaft zum Opfer des Brexits und des Endes der Freizügigkeit wird". Sein Ausschuss hat Pläne ausgearbeitet, wonach EU-Forscher unkompliziert Fünfjahresvisa erhalten sollen.

EU-Forscher denken an Ausreise

Allerdings ist völlig offen, ob die Regierung Norman Lambs Anregungen aufgreifen wird. Ebenso unklar ist, wie es um das Aufenthaltsrecht für EU-Bürger steht, die in Großbritannien wohnen. Für die wissenschaftlichen EU-Mitarbeiter an britischen Universitäten ist das eine schwierige Situation. Die Gewerkschaft Prospect, die mehr als 140.000 Wissenschafter, Ingenieure und andere Spezialisten vertritt, hat eine Befragung durchgeführt, die ergab, dass fast 70 Prozent aller EU-Wissenschafter im Land an eine Ausreise nach dem Brexit denken.

"Wir führen Barrieren ein, wenn wir hochqualifizierte Leute anziehen wollen, weil das jetzige Visasystem völlig ungeeignet ist", kritisiert der Nobelpreisträger Sir Paul Nurse, der den Leserbrief in der "Sunday Times" ebenfalls unterzeichnet hat. "Der Rest der wissenschaftlichen Welt denkt, wir kapseln uns ab. Der Brexit stößt die intellektuelle Jugend im Land ab. Ich denke, dass man das völlig unterbewertet hat." (Jochen Wittmann aus London, 25.8.2018)