Wien – Unter regem medialem Interesse hat am Dienstag in einem bis auf den letzten Platz gefüllten Schwurgerichtssaal am Landesgericht der Prozess gegen einen gebürtigen Afghanen begonnen, der am 18. September 2017 in der Puchsbaumgasse in Wien-Favoriten seine jüngere Schwester vorsätzlich mit einem Kampfmesser getötet haben soll. Er wurde zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt, der Schuldspruch fiel einstimmig aus. Das Urteil ist nicht rechtskräftig. Verteidiger Nikolaus Rast meldete nach Rücksprache mit seinem Mandanten Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung an.

Der mutmaßlich 22-jährige Afghane hatte sich zuvor zum Mord an seiner Schwester schuldig bekannt. "Ich gestehe", sagte er. Weitere Fragen wollte er nicht mehr beantworten: "Ich möchte um Verzeihung bitten. Ich habe eine Straftat begangen. Ich möchte nicht mehr weiter sprechen." Die Straftat habe er "wegen der Kultur begangen", fügte er noch hinzu.

Die Staatsanwaltschaft unterstellt ihm einen "Ehrenmord". Die jüngere Schwester des Mannes hätte "nach Ansicht des Angeklagten die Familienehre befleckt", heißt es in der Anklageschrift.

Diskussion um Alter

Zuvor war eine Diskussion um das Alter des Angeklagten entbrannt. Auf die Frage nach seinem Alter erwiderte der Angeklagte, er sei 19. "Dieses Alter wurde mir von meinen Eltern gesagt. Es wurde hier auch angenommen", erklärte er. Verteidiger Rast verlangte, das Jugendstrafrecht anzuwenden, das für Mord maximal 15 Jahre Haft vorsieht. Er beantragte zu Beginn den Abbruch der Verhandlung.

Deshalb wurde das Gutachten des beigezogenen Sachverständigen für forensische Antrophologie, Fabian Kanz, vorgezogen. "Der Beschuldigte war am Vorfallstag zumindest 21 Jahre und drei Monate alt", stellte der Gutachter fest. Er hätte sich "sehr wahrscheinlich bereits im 22. Lebensjahr befunden".

Auf Nachfrage des Vorsitzenden Richters ergänzte Kanz, es sei "äußerst unwahrscheinlich, dass er jünger war". Das von ihm festgestellte Alter sei eine "Mindestschwelle". Es sei durchaus denkbar, dass der Angeklagte um bis zu vier Jahre älter als von der Staatsanwaltschaft angenommen sei. Diese hat in ihrer Anklageschrift das Geburtsdatum auf "spätestens 29. Mai 1996" festgelegt. Der Antrag wurde nach kurzer Beratung der drei Berufsrichter schließlich abgelehnt.

Die erstochene 14-Jährige hatte den Beschuldigten – ihren Bruder – sowie ihren Vater zweieinhalb Monate vor ihrem Tod wegen fortgesetzter Gewaltausübung angezeigt. Sie begab sich außerdem kurzzeitig in ein Krisenzentrum. Das Verfahren wurde aber eingestellt.

Expertinnen warnen vor Hochrisikofällen

Die "Allianz gewaltfrei leben", der auch die Wiener Interventionsstelle angehört, macht im Zuge des Prozesses darauf aufmerksam, dass Gewalt in Familien oft gerade dann eskaliere, wenn ein Opfer versuche, sich zu befreien. "Extrem patriarchale Einstellungen und Haltungen machen die Situation noch gefährlicher. Es stellt sich die Frage, ob Institutionen, an die sich das Mädchen wandte, der Gefahr genügend bewusst waren", schreiben die Expertinnen in einem Statement.

Um den Opfern wirkungsvollen Schutz zu bieten, seien in solchen Fällen systematische Risikoeinschätzungen und koordinierte Sicherheitsplanung unerlässlich, heißt es weiter. Die Allianz spielt damit auf die multiinstitutionellen Fallkonferenzen an, die es in Wien bis Herbst 2017 gab und an denen sich die Polizei nicht mehr beteiligt – DER STANDARD berichtete. Sie fordern außerdem in Ergänzung zu bestehenden Frauenhäusern die Einrichtung von Mädchenhäusern. (red, APA, 22.8.2018)