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Die Krise ist seit jeher der Soundtrack des europäischen Projekts.

Foto: AP/Jens Meyer

Dem altgriechischen Wortstamm κρίσις folgend ist eine Krise ein Moment der Entscheidung: Ein Turning Point, durch welchen sich eine Situation zum Schlechteren oder Besseren wendet. In den letzten Jahren haben wir derlei Wendepunkte oft durch- und überlebt: Wir befinden uns in einer Krise der Demokratie, auch bedingt durch die Flüchtlingskrise des Jahres 2015, während wir die Finanzkrise anno 2008 gerade so überstanden haben, aber weiterhin tatenlos der zunehmenden Klimakrise gegenüberstehen. Und nicht zuletzt scheint sich die EU seit ihrer Gründung regelmäßig, wenn nicht gar chronisch in einem Zustand der Krise zu befinden, zuletzt aufgrund des Brexits und der Solidaritätskrise zwischen Kernländern und Peripherie. Auch wenn wir oft kaum wissen, worin all diese Krisen eigentlich bestehen – wie auch Hans Vorländer im Userkommentar "Fünf Krisen, die Demokratien unter Druck setzen" kritisch festhält –, scheinen wir doch grundsätzlich übereinzustimmen, nun endgültig im Zeitalter der Krise angekommen zu sein.

Doch die Krise als Soundtrack ist gerade für das europäische Projekt nichts Neues. Bereits Friedrich Nietzsche konstatierte in "Der Wille zur Macht" (1901) einen Marsch in den Abgrund: "Unsre ganze europäische Kultur bewegt sich seit langem schon mit einer Tortur der Spannung […] wie auf eine Katastrophe los: unruhig, gewaltsam, überstürzt: einem Strom ähnlich, der ans Ende will, der sich nicht mehr besinnt, der Furcht davor hat, sich zu besinnen." Spätestens mit Beginn des Ersten Weltkriegs sollte sich dieses Urteil als prophetisch erweisen. Zeitgenössische Krisennarrative, ob auf nationaler oder globaler Ebene, imaginieren weniger kriegerische Auseinandersetzung als einen Zustand des vollständigen menschlichen und politischen Zerfalls, auf den wir unaufhaltsam zusteuern.

Die Effekte der Krise

Dabei wird die Krise gleichzeitig als Dauerzustand und als temporärer Bruch mit einem grundsätzlichen Zustand der Normalität begriffen. Denn erst der Moment der Krise erlaubt die Ausrufung eines Ausnahmezustands beziehungsweise State of Emergency – einer wortwörtlich außergewöhnlichen Situation, die eben außergewöhnliche Maßnahmen erfordert. Gerade im Bereich der Migrationssteuerung ist die Krise ein politisch wirksames und gern eingesetztes Instrument, sei es um die Errichtung einer kilometerlangen Mauer zu Mexiko zur Bekämpfung der Opioidkrise oder die Schaffung eines österreichischen "Notstandsgesetzes" zur Eindämmung der Flüchtlingskrise zu legitimieren. Letzteres wurde einige Monate nach dem Höhepunkt des Fluchtherbsts 2015 beschlossen und geizt nicht mit Krisenformeln: Sollten die "öffentliche Ordnung und der Schutz der inneren Sicherheit" aufgrund hoher Flüchtlingszahlen gefährdet sein, tritt besagter "Notstand" ein, aufgrund dessen Schutzsuchende bereits an der Grenze abgelehnt und in ein sicheres Nachbarland zurückgeschickt werden dürfen.

Die Proklamation einer Krise legitimiert somit Praktiken der Repression und Kontrolle bis hin zur Aussetzung internationaler Verpflichtungen und, im extremen Fall, Beschneidung von Menschenrechten. Die Anthropologin Sabine Strasser bezeichnet dies als den Kriseneffekt, der wesentlich zur Schaffung neuer oder zur Aufrechterhaltung bestehender politischer, wirtschaftlicher und sozialer Machtverhältnisse beiträgt. Im Bereich der Migrationskrise zeigte sich dieser Effekt nicht zuletzt in der Beschleunigung politischer Karrieren auf nationaler und europäischer Ebene, aber auch in der Verschärfung der Asylgesetzgebung und der Kriminalisierung von Seenotrettungen.

Akut oder chronisch?

Krisen sind also nicht nur ein veritables Instrument für Machtergreifung und -erhalt, sondern auch für die damit verbundene Mobilisierung von Ressourcen. Während die Mehrheit der EU-Mitgliedsstaaten weiterhin einen strengen Sparkurs fordert, schien das Budget zur Aufstockung des Außengrenzschutzes oder zur Konsolidierung des EU-Türkei-Abkommens rasch aufgestellt. Folgerichtig ist die Krise, frei nach Michel Foucault, das Herzstück moderner Politik, die auf dem Wunsch nach Reglementierung und Kontrolle fußt – vor allem Kontrolle jenes Wandels, der die oben zitierte "öffentliche Ordnung" und "innere Sicherheit" bedroht. Dabei sind Krisen und ihre Auswirkungen keineswegs neutral: Dass vulnerable, marginalisierte Gruppen, darunter Arme, Migranten, Frauen und Kinder, von wirtschaftlichen, politischen und ökologischen Krisen stärker betroffen sind als andere, ist mittlerweile hinreichend belegt.

Somit zeigt sich noch ein Effekt der Krise als "isolierte Zeitspanne, in der unser Leben zerstört wird" (Henrik Vigh): Krisen als kurzzeitige Brüche mit einer generellen Normalität zu sehen erlaubt uns, strukturelle Ungleichheiten und daraus resultierende Verwerfungen als unvorhersehbar, überraschend und überfallsartig einzuordnen und mit einer dringlichen, aber zeitlich begrenzten Reaktion zu bedenken. Darunter liegende politische oder ökonomische Gründe als unmittelbare Auslöser der Krisensituation treten in den Hintergrund, während individuelles Leid und "Soforthilfe" betont werden. Nicht selten müssen sich NGOs deshalb dem Vorwurf stellen, "alarmistisch" zu agieren oder Teil einer "Krisenindustrie" zu sein, nutzen sich doch dauerhafte globale Krisenherde medial schnell ab.

Krise als Chance

Das Dauerrauschen der Krise hat an Lautstärke und Vielstimmigkeit gewonnen; Ignorieren oder Ausblenden stellen schon allein deshalb keine Optionen dar. Tatsächlich könnte ein mögliches alternatives Handlungsszenario sein, die oft und gerne konstatierten Krisen weniger als akute denn chronische zu bewerten: keine einzelnen Episoden, sondern anhaltende Epidemien, für die Kurzzeitinterventionen kaum nachhaltige Linderung versprechen. Denn in der europäischen Kulturgeschichte offenbart sich die Krise vor allem als eines: als Chance zur Veränderung. (Judith Kohlenberger, 27.8.2018)