Marcus Tullius Cicero (hier seine Büste in den Kapitolinischen Museen) war bekannt dafür, sich kein Blatt vor den Mund zu nehmen – was ganz dem damaligen Zeitgeist entsprach.

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Münster – Heutige Debatten über "Hate Speech" im Internet oder auf politischen Bühnen sieht der deutsche Historiker Martin Jehne von der Technischen Universität Münster inzwischen gelassen. Der Grund: Sein aktueller Forschungsgegenstand sind die Schmähungen, die Politiker im Alten Rom einander an den Kopf warfen.

Die sollen zum Teil noch um einiges deftiger gewesen sein als heutige Aufreger – und dennoch sei die Römische Republik daran nicht zerbrochen. Jehnes Fazit: "Eine gewisse römische Robustheit im Umgang mit Schmähgemeinschaften wie AfD oder Pegida könnte helfen, den Aufregungspegel zu senken und sachlicher zu werden", berichtet die Uni Münster.

Heftige Vorwürfe

"Die Angriffe, auch Invektiven genannt, gehörten für Senatoren der Römischen Republik fest zum öffentlichen Leben", sagt Jehne, der seine Forschungsergebnisse im September auf dem 52. Deutschen Historikertag vorstellen wird. Der Ton in der stark hierarchisierten römischen Politik sei rau gewesen, aber nicht ohne Regeln. "Politiker beschimpften einander rücksichtslos. Zugleich mussten sie sich in der Volksversammlung vom Volk beleidigen lassen, ohne es selbst schmähen zu dürfen – ein Ventil, das in einer tiefen Spaltung in Arm und Reich die Allmachtsphantasien der Elite begrenzte."

Im politischen Streit habe es in der Römischen Republik (509–27 vor unserer Zeitrechnung) kaum Grenzen des guten Geschmacks gegeben. Jehne verweist etwa auf den berühmten Redner und Politiker Marcus Tullius Cicero, der seinem Gegner Clodius öffentlich Inzest mit Brüdern und Schwestern vorwarf, was selbst im sexuell relativ entspannten Rom als unzulässig galt. Im Gegenzug habe Clodius Cicero vorgeworfen, er hätte sich als Konsul wie ein König aufgeführt – was laut Jehne sogar schwerer wog, weil das Königtum in der Republikszeit verpönt war.

Alles wieder gut

Politiker und Publikum hätten solche Schmähungen aber kaum für bare Münze genommen, berichtet der Forscher weiter: "Die Römer scheint das wenig interessiert zu haben. Es gab zwar das Delikt der iniuria, zu der auch verbale Verletzungen gehörten – aber kaum solche Anklagen."

Die Stadtrömer waren dem Historiker zufolge stolz auf ihren bissigen, rücksichtslosen Witz auf Kosten anderer: "Sie hielten das für einen wichtigen Teil von urbanitas, den Kommunikationsformen der Hauptstädter, im Gegensatz zur rusticitas der Landeier." Man habe sich regelrecht gerühmt, dass die üble Nachrede in der Stadt besonders blühte.

"Als Geschmähter hielt man das aus, und wenn möglich, revanchierte man sich." Oft arbeiteten Invektivgegner schon bald danach wieder zusammen und pflegten normalen Umgang. Das politische Klima blieb laut dem Forscher zumindest leidlich stabil: Morde aus gekränkter Ehre habe es nur in der Ausnahmesituation des Bürgerkriegs gegeben.

Nüchternheit gefragt

Im Brückenschlag zu heutigen Debatten um "Hate Speech" und deren mögliche demokratiegefährende Wirkung plädiert der Historiker daher für mehr Gelassenheit: "Meine Forschung hat mich dazu gebracht, meinen Aufregungspegel bei neuen Schmähungen der Gegenwart erheblich zurückzufahren – die Schmähungen waren es jedenfalls nicht, die den Untergang der Römischen Republik herbeiführten." (red, 24. 8. 2018)