Markus Hinterhäuser: "Ich habe mich nicht prinzipiell gegen Uraufführungen ausgesprochen. Aber ich muss dafür einen Grund finden."

Foto: Salzburger Festspiele / Neumayr

STANDARD: Die größte mediale Aufregung der heurigen Festspiele war die Erkrankung von Jedermann Tobias Moretti und dass Schauspieler Philipp Hochmair so kurzfristig eingesprungen ist. Sind Sie enttäuscht, dass es nicht größere inhaltliche Kontroversen gab?

Hinterhäuser: Dass man innerhalb von 36 Stunden einen Jedermann-Ersatz gefunden hat, war eine ziemliche Leistung! Natürlich ruft das eine entsprechende Reaktion hervor, vielleicht auch ein Überinteresse. Die eine oder andere inhaltliche Kontroverse hat es ja gegeben, beispielsweise in der Zauberflöte, partiell auch in der Poppea und den Bassariden. Gegen solche Auseinandersetzungen habe ich gar nichts, sie allerdings als solche zu planen oder zu provozieren wäre mir zu einfach, das ist nicht mein Stil.

STANDARD: Dabei haben sie mit Romeo Castellucci oder Hans Neuenfels einige wirklich radikale Regisseure engagiert. Da plant man als Programmmacher Kontroversen doch mit!

Hinterhäuser: Es gibt keine Strategie der geplanten Aufregung. Aber lassen Sie uns über den Begriff der Radikalität sprechen: Castellucci ist ein Regisseur, der das Radikale im etymologischen Sinn beim Wort nimmt. Er geht an die Wurzel eines Mythos, einer biblischen Ikonografie. Und hätte es im Fall von Hans Neuenfels einen Skandal gegeben, womit viele gerechnet haben, hätte man gesagt: Schon wieder ein Neuenfels-Skandal!

STANDARD: Skandale können auch befreiende Wirkung haben.

Hinterhäuser: Hans Neuenfels hat einfach gezeigt, was für ein meisterhafter Regisseur er ist. Die Schäferszene in der Pique Dame war eine Lehrviertelstunde in Opernregie. In Neuenfels' "berüchtigter" Fledermaus war sicher das eine oder andere an Aufregung mit eingeplant. Aber seine Denkmuster sind doch nicht so bescheiden, dass er einen kalkulierten Skandal hervorrufen will!

STANDARD: Es gibt Intendanten, die eine große Lust haben, einem als konservativ verschrienen Publikum eine Provokation vorzusetzen. Man denke nur an Gerard Mortier. Verspüren Sie nicht auch diese Lust?

Hinterhäuser: Was ich deutlich stärker in mir spüre, ist die Lust an einer Gesamterzählung aus Musik und Regie. Das Resultat kann aufregen, aber was in diesem Sommer in Salzburg passiert ist, war eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Stoffen. Es fand beispielsweise eine Salome statt, die vieles in der Rezeptionsgeschichte dieser Oper verändert hat und bleibend verändern wird. Und weil Sie Mortier erwähnt haben: Wir leben heute in einer vollkommen anderen Zeit.

STANDARD: Die allerdings von großen Umbrüchen geprägt ist. Wäre es nicht angebracht, dass die Kunst verstärkt politische Fragen diskutiert?

Hinterhäuser: Das wurden sie doch! Aber es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen politischen Fragen und Fragen der Alltagspolitik. Ich sehe es nicht als Aufgabe der Festspiele, die großen Opern auf tagesaktuelle Phänomene hin zu untersuchen.

STANDARD: Das habe ich nicht gemeint. Es geht um die großen politischen Abzweigungen unserer Zeit.

Hinterhäuser: Einiges davon hat Philipp Blom in seiner Eröffnungsrede formuliert. Man findet viele der großen politischen Fragestellungen in den Bassariden, in der Poppea, den Persern. Nur sind diese Fragen nicht vordergründig gestellt, geschweige denn gelöst. Ich glaube daran, dass es ein höheres Niveau der Reflexion braucht, eine größere Erzählung, um dann Rückschlüsse auf unsere täglichen politischen Möglichkeiten ziehen zu können.

STANDARD: Wird man damit gehört? Der politische Diskurs ist laut, populistisch, muss da nicht auch die Kunst lauter werden?

Hinterhäuser: Die lauten Stimmen sind nicht unbedingt die Stimmen, denen man ein hohes gedankliches Niveau unterstellen würde. Die Kunst kann den Syrien-Krieg nicht beenden, kann das Migrationsproblem nicht lösen, und nach dem Jedermann wird wohl aus Läuterungsgründen kein wohlhabender Münchner sein Auto oder seine Villa verkaufen. Aber was wir können, ist, im Sinne Flauberts zur " Erziehung des Herzens" aufzurufen.

STANDARD: Die Politik benutzt die Festspiele gerne als Bühne. Kanzler Kurz war etwa zur Eröffnung da. Die Festspiele könnten eine stärkere Gegenposition zur derzeitigen Politik einnehmen.

Hinterhäuser: Ich hatte nicht das Gefühl, dass jemand die Festspiele als Bühne benutzt. Wir haben Philipp Blom den Auftrag zur Eröffnungsrede gegeben. Er hat klargestellt, dass wir Kinder der Aufklärung sind, und gefragt, ob dieses Wort nicht zu einer hohlen Phrase verkommen ist. Damit hat er auch die Haltung der Festspiele zum Ausdruck gebracht. Dass die Festspiele von der Politik eröffnet werden, ist ja nichts Neues, das war immer schon so. Ich habe eine klare politische Meinung, als Intendant möchte ich allerdings bei der Eröffnung nicht reden.

STANDARD: Jürgen Flimm hat das als Intendant getan.

Hinterhäuser: Vielleicht wird einmal der Moment kommen, wo ich das auch für richtig erachte. Derzeit möchte ich aber als künstlerisch Verantwortlicher meine Position durch das, was ich inhaltlich anbiete, klarmachen.

STANDARD: Dann sprechen wir darüber: Ihr dramaturgisches Konzept besteht aus ungewöhnlichen Paarungen von interessanten Regisseuren und großen Stoffen. Wie hat diese "Salzburger Dramaturgie" aus Ihrer Sicht heuer funktioniert?

Hinterhäuser: Ich möchte den Begriff "Salzburger Dramaturgie" durch "Salzburger Erzählung" ersetzen. Eine Erzählung lädt Menschen ein, ihr zuzuhören, ohne verspannte intellektuelle Verbrämtheit. Diese Erzählung, auch auf die Gefahr hin, mich selbst zu loben, hat funktioniert. Es gab ein immenses Interesse des Publikums und leidenschaftliche Diskussionen.

STANDARD: Ein Werk Ihres Programms ist der Neuen Musik vorbehalten: Vergangenes Jahr haben Sie Reimanns Lear, heuer Henzes Bassariden gezeigt. Beides spielten Sie vor vollem Haus. Verträgt Salzburg nicht noch einen stärkeren Fokus auf Werke des 20. Jahrhunderts?

Hinterhäuser: Ich wäre glücklich, würde man mich nicht mehr nach Quoten fragen. Der wesentlichste Dienst an der Neuen Musik kann doch nur der sein, unmissverständlich deutlich zu machen, dass sie zu uns gehört, und zwar so selbstverständlich quotenfrei zu uns gehört wie die Musik Beethovens, Schuberts oder Mahlers.

STANDARD: Aber so selbstverständlich ist das nicht.

Hinterhäuser: Wir sind auf einem guten Weg.

STANDARD: Den Prozess von Gottfried von Einem haben Sie nur konzertant gegeben. Hätte es nicht gerade der mit den Salzburger Festspielen eng verbundene Einem verdient, einen prominenteren Platz zu kriegen?

Hinterhäuser: Ich muss jetzt technisch werden: Es ist schwierig von den Spielräumen und von der finanziellen Situation her, noch etwas ins Programm "hineinzumogeln". Ich wollte die Bassariden auf den Lear folgen lassen und mit ihnen die Festspiele beschließen. Mit der konzertanten Aufführung von Gottfried von Einems Prozess haben wir einen sehr nachhaltigen und wichtigen Beitrag zu dessen 100. Geburtstag geleistet, der bis zur New York Times enthusiastisch wahrgenommen wurde.

STANDARD: Henze nach Reimann. Wer folgt auf Henze?

Hinterhäuser: Das will ich noch nicht sagen. Aber wir haben eine interessante Lösung gefunden.

STANDARD: Aber es wird keine Uraufführung sein? Sie haben sich gegen Uraufführungen ausgesprochen.

Hinterhäuser: Ich habe mich nicht prinzipiell gegen Uraufführungen ausgesprochen. Aber ich muss für mich einen Grund finden, warum ich etwas mache, und ich muss Leidenschaft entwickeln können. Der gar nicht selten zu beobachtenden Attitüde, mit der Opernaufführungen vergeben werden – ohne der Frage nachzugehen, was Oper heute ist und warum Oper heute zu sein hat –, haftet für mich etwas seltsam Gönnerhaftes an. Die Bassariden sind in den 1960er-Jahren entstanden, in politisch extrem aufgeladenen Zeiten, und was hat Henze gemacht? Er hat sich mit einem antiken Stoff beschäftigt, den Bakchen des Euripides. Das ist für mich heute das genau richtige Stück.

STANDARD: Und Sie sehen heute keine Stücke zeitgenössischer Komponisten, die das auch leisten können?

Hinterhäuser: Das möchte ich gar nicht bestreiten, ich habe mich allerdings aus guten Gründen für die Partitur von Hans Werner Henze entschieden.

STANDARD: Im vergangenen Jahr hat sich das Theater kaum ins Programm integriert. Mit Penthesilea und den Persern landeten Sie in diesem Sommer zwei Erfolge. Warum lief es heuer besser?

Hinterhäuser: Manchmal brauchen Dinge ihre Zeit, und manchmal hat man mehr Glück und manchmal weniger. Dieses Jahr hatte das Schauspiel starke Protagonisten. Warum kann ein Stück wie Penthesilea eine solche Wirkung entfalten? Weil man sich auf Schauspieler verlässt. Sie hatten nichts als sich selbst. Und auf der anderen Seite die Perser, ein komplett anderer Regiezugang. Man muss in einem Festival verschiedene künstlerische Grammatiken zulassen und anbieten.

STANDARD: Mit dem Young Directors Project hatte man in Salzburg eine eigene Theaterschiene für jüngere Theaterregisseure. Sie wurde mit dem Ausfall eines Sponsors gestrichen. Jetzt fehlt in Ihrer Festival-Grammatik die Pflege kommender Generationen.

Hinterhäuser: Wir haben das Young Singers Project, das sehr erfolgreich ist, wir haben den Young Conductors Award, der von Nestlé unterstützt wurde und den wir weiterführen werden. Mit dem Young Directors Project ist es leider schwieriger. Wir brauchen da eine Form der finanziellen Unterstützung, die wir bisher nicht gefunden haben. Unser finanzieller Spielraum ist deutlich geringer, als das von außen gesehen wird. Sollte mein Vertrag verlängert werden, dann hat ein solches Projekt oberste Priorität. In den kommenden zwei, drei Jahren werden wir es aber nicht schaffen.

STANDARD: So lange läuft Ihr Vertrag. Sie haben vor den heurigen Festspielen gesagt, dass während oder nach den Festspielen die Diskussion über seine Verlängerung geführt werden müsse. Führen Sie sie bereits?

Hinterhäuser: Nein. Es gehen zwei Verträge zu Ende, jener der Präsidentin und meiner. Wer immer das in Zukunft macht, muss jetzt mit den Planungen für die Zeit nach 2021 anfangen. Es gibt eine Vorlaufzeit von mindestens drei Jahren in der Oper, deswegen ist diese Diskussion jetzt zu führen. Was mich selber betrifft, habe ich schon des Öfteren den Wirklichkeits- und Möglichkeitssinn Robert Musils bemüht. Die Möglichkeit ist da, die Wirklichkeit allerdings sieht so aus, dass in dieser Frage das Kuratorium die Entscheidung zu treffen hat. (Stephan Hilpold, 27.8.2018)