Auf den ersten Blick würde man das Aye-Aye nicht als Affen-Verwandten einstufen. Ungleich schwerer fällt die Zuordnung, wenn von einer Spezies nur ein paar Knochen erhalten sind.
Foto: David Haring

Durham – Den Menschen einmal ausgeklammert, dürfte das Aye-Aye oder Fingertier (Daubentonia madagascariensis) der ungewöhnlichste aller Primaten sein. Das inklusive Schwanz knapp einen Meter lange Tier ist nachtaktiv und nimmt in seiner Heimat Madagaskar die ökologische Rolle ein, die anderswo Spechte innehaben.

Mit dem extrem verlängerten und verdünnten dritten Finger klopft es die Rinde von Bäumen ab und lauscht mit seinen Segelohren, ob sich in Hohlräumen darunter Insektenlarven verbergen. Hat es entsprechende Aktivitäten gehört, nagt es ein Loch in die Rinde und angelt sich mit seinem Finger die Beute heraus.

Verschwundene Verwandte

Das Aye-Aye gehört zwar zu den nur auf Madagaskar vorkommenden Lemuren, nimmt aber selbst unter dieser von den Affen Afrikas abgetrennten Gruppe eine Sonderstellung ein. Sein einziger direkter Verwandter – eine um das Doppelte vergrößerte Ausgabe des Aye-Aye – ist vor etwa 1.000 Jahren ausgestorben beziehungsweise ausgerottet worden.

Nun aber berichten US-Forscher im Fachmagazin "Nature Communications" von einem anderen, wesentlich älteren Verwandten. Und der verschiebt das Bild, das man sich bisher von den Lemuren Madagaskars gemacht hatte, beträchtlich.

Kieferknochen von Propotto leakeyi (rechts) und seinem älteren Verwandten Plesiopithecus teras.
Foto: Duke SMIF

Das Tier mit der Bezeichnung Propotto leakeyi lebte vor etwa 20 Millionen Jahren im heutigen Kenia. Seine 1967 entdeckten Fossilien – Kieferknochen und ein paar millimeterkleine Zähne – ordnete der Paläontologe George Gaylord Simpson zunächst korrekt einem Primaten zu, ließ sich dann aber durch einen Kollegen, der das Tier für eine Fledermaus hielt, von seinem ersten Eindruck abbringen. Seitdem stand Propotto als Fledermaus in den Lehrbüchern.

2016 kam die Sache dem Paläontologen Gregg Gunnell von der Duke University dann spanisch vor. Er verständigte Kollegen von der University of South California, die sich die Fossilien einmal genauer anschauen sollten. So wie die Zähne des Fingertiers eher denen von Nagetieren als denen der Affen-Verwandtschaft ähneln, sind auch die von Propotto nicht so leicht einzustufen.

Eine Kombination aus mikrotomografischen Untersuchungen, Gen-Analysen und morphologischen Vergleichen mit über 100 anderen Säugetierspezies belegte schließlich, dass Propotto ein Primat war – und zudem ein naher Verwandter des Aye-Aye. Außerdem kam das Forscherteam um Erik Seiffert zum Ergebnis, dass ebenfalls eine enge Verwandtschaft zur Primatenart Plesiopithecus teras besteht, die vor 34 Millionen Jahren im heutigen Ägypten lebte.

Rückschlüsse auf die Besiedlungsgeschichte

Daraus würde folgen, dass die Besiedlung Madagaskars durch die Lemuren ganz anders abgelaufen ist, als man sich das lange Zeit vorgestellt hat. Dachte man bislang, dass die Lemuren in einer einzigen Welle auf Madagaskar angekommen wären, so sprechen die neuen Ergebnisse eher dafür, dass sich die Aye-Aye-Verwandtschaft noch in Afrika vom Rest der Lemuren trennte und beide Gruppen zeitlich versetzt auf der Insel ankamen.

Und es könnte viel später geschehen sein als vermutet. Anstatt Madagaskar schon relativ bald nach dem Verschwinden der großen Dinosaurier besiedelt zu haben, sind die Lemuren möglicherweise erst vor gut 20 Millionen Jahren auf der Insel angekommen: Ähnlich spät wie andere Tiergruppen, die heute für Madagaskar typisch sind und nirgendwo sonst auf der Welt vorkommen.

Die Fossa, eine entfernte Verwandte der Katzen, ist das größte unter den Madagassischen Raubtieren und kommt nur auf dieser Insel vor.
Foto: STEPHANE DE SAKUTIN / AFP

In dieser Ära war der Meeresspiegel laut den Forschern zwar besonders niedrig – dennoch hätten all diese Tiere auch damals schon einige hundert Kilometer Ozean überqueren müssen. Schwimmen gilt als unwahrscheinlich, vermutlich haben die Lemuren und andere Tiere das Meer auf treibenden Inseln aus zusammengeballtem Pflanzenmaterial überquert. Auf dieselbe Weise sollen Affen auch von der anderen Seite Afrikas "losgesegelt" sein, was ihnen die Besiedelung Südamerikas ermöglichte. (jdo, 25. 8. 2018)