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Der Zorn ist groß in Marokko, besonders unter Jugendlichen. Die wenigsten finden eine Beschäftigung, von der sie auch leben können. Das ist der Nährboden auch für Radikalisierung.

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In Italien wird man schnell zum Marokkaner, auch wenn man nicht aus Marokko kommt: "Marocchini" nennen viele Italiener ganz allgemein Menschen aus den südlichen Mittelmeeranrainerstaaten, besonders solche, die als ungelernte Arbeitskräfte tätig sind. Dabei ist Italien nicht Zielland Nummer eins für Migranten aus Marokko, das ist aus sprachlichen Gründen Frankreich, gefolgt vom nahen Spanien. Nur 14,5 Kilometer beträgt die Distanz in der Meerenge von Gibraltar.

Marokko hat im Zeitalter von Flucht und Migration gleich eine mehrfache Rolle inne: Ab Mitte der 1990er-Jahre hat sich die Migration von Marokkanern nach Europa vervielfacht. Zudem ist Marokko, nicht nur wegen der spanischen Enklaven Ceuta und Melilla, auch immer stärker zum Transitland für Menschen aus der Subsahara und Westafrika geworden – und zuletzt auch noch ein Zufluchtsland für Syrer.

Die Migrationsbewegungen haben auch das Verhältnis zur EU geprägt: Marokko war das erste Land am Mittelmeer, das ein "Mobilitätspartnerschafts"-Abkommen mit Brüssel unterzeichnete. Darin ist zwar von einer "globalen Annäherung" an Migration und Mobilität die Rede, mit "Regulierung" ist aber natürlich Eindämmung gemeint. Und so ist Marokko auch zum Ort geworden, in dem viele Menschen hängenbleiben, die weiterwollten. Sie erhöhen den Druck auf eine schwache Wirtschaft und Infrastruktur.

Radikalisiert in Europa

Dem Land Marokko verfällt beinahe jeder, der es bereist. Es ist außerordentlich schön. Dem entgegengesetzt ist Marokkos Image in Europa als "Terroristenexportland". Dabei handelt es sich jedoch meist um Marokkanischstämmige, deren Eltern oder sogar Großeltern bereits emigriert waren, das heißt, sie wurden – und das wird man in Marokko nicht müde zu betonen – in Europa und nicht in Marokko radikalisiert.

Das ist richtig. Dennoch ist nicht zu leugnen, dass der radikale Untergrund auch in Marokko existiert und jihadistischen Organisationen wie dem "Islamischen Staat" Personal geliefert hat. Armut und Perspektivenlosigkeit fordern ihren Tribut.

Das hat dem Ruf Marokkos als stabile und gleichzeitig reformfreudige Monarchie aber kaum einen Abbruch getan. 2011, im Jahr des "Arabischen Frühlings", gab es auch in Marokko Proteste gegen soziale Ungleichheit und politische Unfreiheit, wie in anderen arabischen Ländern, in denen es ebenfalls nicht zu Umsturz und/oder Krieg kam wie in Tunesien, Ägypten, Jemen und Syrien. König Mohammed VI., seit 1999 im Amt, reagierte mit einer Verfassungsänderung, in der er formal einige Macht an den Regierungschef abgab. Parlament und demokratische Partizipation spielen in seinen Reden seitdem eine größere Rolle. Aber immer mehr Marokkaner und Marokkanerinnen zeigen sich enttäuscht von der Umsetzung. Das entlädt sich zunehmend in Protesten. Von manchen Beobachtern wird 2018 bereits als das 2. Arabische-Frühling-Jahr in Marokko bezeichnet. Zu den Demonstrationen gesellen sich Aktionen des zivilen Ungehorsams. Seit Ende April wird zum Boykott der Quasi-Monopolisten Sidi Ali (Wasser), Centrale Laitière (eigentlich Danone, Milchprodukte) und Afriquia (Mineralöl). Letztere gehört Aziz Akhennouch, Chef der "Palastpartei" RNI (Rassemblement National des Indépendants), der sich Hoffnung machte, die nächsten Wahlen zu gewinnen. Seitdem die enormen Gewinne seines Unternehmens diskutiert werden, sieht das nicht mehr so gut aus.

Marokko leidet an den üblichen nordafrikanischen Krankheiten: hohe Jugendarbeitslosigkeit und keine Zukunft für die Jungen aus schwächeren Schichten, die weder in Ausbildung noch in Arbeit sind; Korruption; ein schwacher Rechtsstaat; bittere Armut da und eine dünne, sehr reiche Elite, die es sich richten kann, dort. Dazu kommt der Klimawandel: Die Perioden, in denen es in manchen Gegenden mehr als 35 Grad hat, werden immer länger, mit den üblichen Folgen für die Wasser- und Stromversorgung.

Passiv und abwesend

2011 gelang es dem 1963 geborenen König noch, die meisten Marokkaner davon zu überzeugen, dass die Monarchie ihre Sorgen verstand und ernst nahm. Dieser Kredit ist ausgelaufen, Mohammed wird als fern und passiv wahrgenommen. Vermehrt wird Kritik laut, dass er viel im Ausland ist und mehr über Social Media kommuniziert als persönlich.

Seine Eheschließung 2002 mit Lalla Salma, einer Informatikerin, geriet noch zur Demonstration, dass Marokko in der Moderne angekommen war: Erstmals gab es Fotos von einer Frau des Königs, erstmals verzichtete ein König auf Polygamie. Aus dem offenbaren Zerfall dieser Ehe wird aber heute wiederum ein Staatsgeheimnis gemacht, auch wenn die Fakten bei den Marokkanern indirekt ankommen: Seine Frau fehlte auf den Bildern auf Facebook, die Mohammed VI. Anfang des Jahres in einem Pariser Krankenhaus nach einer Herzoperation zeigten.

Der Spagat, den der König zwischen seinen Modernisierungswünschen und der politischen Realität schlagen muss, ist aber auch alles andere als einfach. Auf die Verfassungsreform 2011 folgten Wahlen, die die islamistische PJD (Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei) gewann – wie in anderen arabischen Ländern waren die Islamisten die am wenigsten beschädigte politische Kraft. Der König löste sein Versprechen ein, eine dem Wählerwunsch entsprechende Regierung einzusetzen: Der Islamist Abdelilah Benkirane wurde folglich Regierungschef. Die Islamisten gewannen auch die Wahlen 2016. Im Rahmen einer quälend langen Regierungsbildung designierte der König 2017 einen anderen Premier, Saadedine Othmani. Der Lack ist auch bei der PJD längst ab, mangels Alternativen ist sie noch immer stärkste Partei.

"Säkulare Identität"

Interessant ist bei dieser Konstellation, dass der König formal die höchste religiöse Institution ist – was zu seiner Legitimierung beitragen mag. Die Verfassungsreform 2011 ließ diese Rolle unberührt, die religiösen Institutionen und Curricula bleiben weiter unter der Aufsicht der Monarchie. In seinen Thronreden betont Mohammed VI. jedoch seither die "säkulare Identität" des Landes.

In diesen Reden – die letzte war am 30. Juli – versucht der König, die Deutungshoheit über Entwicklungen und Probleme des Landes zu behalten: Er äußert Verständnis für die Unzufriedenen, fordert Reformen ein, diesmal auch konkrete Gesetze, die der Ankurbelung von Investitionen helfen sollen. Allein, viele Marokkaner und Marokkanerinnen haben den Glauben an eine fruchtbare Konkurrenz zwischen Thron und islamistischer Regierung verloren.

Am Tag vor der diesjährigen Thronrede wagte sich der König in die Höhle des Löwen: Er sprach in Al-Hoceima, am Fuße des von Rabat vernachlässigten Rif-Gebirges, in dem seit 2016 die sozialen und wirtschaftlichen Proteste an Fahrt aufnehmen. Kurz zuvor waren Aktivisten der unter Sezessionismus-Verdacht stehenden Hirak-Bewegung, unter ihnen ihr Führer Nasser Zefzafi, zu hohen Haftstrafen verurteilt worden. Auch hier: einerseits Härte, andererseits Verständnisbezeugungen des Königs, der die Regierung ermahnt. Und unten brodelt es. (Gudrun Harrer, 26.8.2018)