Das Oberlandesgericht zerpflückte das Urteil des Erstrichters im Fall des Landarztes L. komplett

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Der Freispruch des steirischen Arztes, dem seine 1988, 1989, 1994 und 1998 geborenen Kinder vorwerfen, ihnen über Jahre hinweg körperliche und seelische Qualen zugefügt zu haben, sorgte im September des Vorjahres für Empörung – auch innerhalb der Justiz. Gegen das Urteil haben sowohl die Kinder des Angeklagten und die Staatsanwaltschaft wegen Nichtigkeit Berufung eingelegt. Mit Erfolg. Dem STANDARD liegt nun die Begründung des dreiköpfigen Richtersenats des Oberlandesgerichtes (OLG) Graz vor.

Dieser zerpflückte das Urteil von Richter Andreas Rom nach Strich und Faden. Die Causa muss zurück in die erste Instanz und nochmals verhandelt werden. Die Staatsanwaltschaft hatte dem Landarzt bekanntlich vorgeworfen, er habe bei den drei Töchtern und dem Sohn durch wiederholte Ankündigungen, er werde sich umbringen und die Familie werde verarmen, "Verlust- und Existenzängste" geschürt.

Außerdem habe er durch "permanente Beleidigungen, Demütigungen und liebloses Verhalten das Selbstwertgefühl" der Kinder herabgesetzt, ihnen befohlen, verdorbene Lebensmittel zu essen, sich vor ihnen "selbst Verletzungen zugefügt" und ihnen "teils Ohrfeigen und Schläge auf den Hinterkopf" versetzt.

Bei allen Kindern liegen ärztliche Atteste vor, wonach sie etwa an posttraumatischen Belastungsstörungen, Depressionen, Angststörungen leiden und durch die unkontrollierte Verabreichung von Schmerzmitteln und Drogen durch den Vater auch abhängig gemacht wurden. Bei einer Tochter sollen schwere Dauerfolgen aufgrund des früheren Missbrauchs diverser Substanzen bestehen.

Wie bereits berichtet, erzählten die Kinder auch von Vorfällen, bei denen sie dem Vater Spritzen injizieren mussten oder – im Falle einer Tochter – einen Schraubenzieher aus seiner Bauchdecke herausziehen mussten.

Mangelnde Beweiswürdigung

Richter Rom befand lediglich, dass das alles zwar "naturgemäß nicht geeignet gewesen" sei, um "ein harmonisches Familienleben zu gestalten", nicht aber, um "einen beträchtlichen Schaden" an der Psyche herbeizuführen.

Die Richter des OLG heben in ihrer Begründung hervor, dass die Beweiswürdigung Roms "erhebliche, in der Hauptverhandlung vorgekommene Verfahrensergebnisse unberücksichtigt" ließ. Darunter sind belastende Zeugen, die nicht mit L. verwandt sind. Dabei hatte der Richter pikanterweise Aussagen der Kinder und ihrer Mutter als Teil eines "Rosenkrieges" der heute geschiedenen Eltern abgetan.

Kritisiert wird in der Aufhebung des Freispruchs auch, Roms Einschätzung der psychischen Folgen, die der exzessive Drogenkonsum und die Selbstverletzungen des Angeklagten für seine Kinder hatten. Dabei wurde ein Tagebuch der zweitältesten Tochter, das diese "offenkundig schon ab 21. Juli 2011 verfasst", wie es in der Begründung heißt, ebenso wenig berücksichtigt wie sogar teilweise Zugeständnisse des Arztes im Zusammenhang mit solchen Vorfällen und deren Häufigkeit.

Weiters wurde eine Ambulanzkarte der Landesnervenklinik Sigmund Freud derselben Tochter vom März 2008 mehr oder weniger ignoriert. Auch ein Waffenbesitz, den L. nicht gemeldet hat, thematisiert das OLG nochmals.

In der Öffentlichkeit sorgte vor allem die Formulierung des Richters darüber, warum er Dr. L. glaubwürdiger fand als seine Kinder, für Aufregung. Er sah L. "äußerst sakral im Sinne der katholischen Kirche eingestellt, mit diesen christlichen Werten vertraut". Die Mutter aber wirke "überladen" und die Kinder aufgrund ihrer Kleidung unglaubwürdig.

Auch der Richtersenat kritisiert die "im Kern ausschließlich am persönlichen Eindruck" orientierte Beurteilung. Einen neuen Verhandlungstermin nennt das Straflandesgericht Graz noch nicht.

Anzeige gegen Richter

Nach wie vor keine Entscheidung gibt es auch bei Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA). Bei ihr zeigten die Kinder und die Ex-Frau von L. Richter Rom im Dezember wegen Verleumdung und Amtsmissbrauchs an. Ob Anklage erhoben wird, steht aber noch immer nicht fest. "Man ist dran und prüft das sehr sorgfältig", sagt eine Sprecherin der WKStA dem STANDARD.

L. ist Bruder eines prominenten ÖVP-Politikers, dessen Partei sich zur Zeit des Freispruchs gerade in der Intensivphase des Nationalratswahlkampfes 2017 befand. (Colette M. Schmidt, 24.8.2018)