Der französische Autor Olivier Guez schreibt nicht zum ersten Mal über den Nationalszialismus. Und er ist nicht der einzige. Sein Landsmann Eric Vuillard legte unlängst mit "Die Tagesordnung" einen vielbeachteten Roman darüber vor, wie Industrielle der 1930er-Jahre zu Adolf Hitlers Aufstieg beitrugen.

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Josef Mengele auf einem Foto von 1956. Ihn betrübt in Buenos Aires zu jener Zeit die Einsamkeit. Seine Frau Irene wollte nicht mit ihm fliehen, er schreibt ihr flehentliche Liebesbriefe. Sie rät ihm postwendend, sich einen Hund zu kaufen. Er tut es.

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Erst sechs Jahre nach Mengeles Tod bricht die Familie in Deutschland ihr Schweigen. Sie hat ihn bis zuletzt finanziert und fürchtet einen Imageschaden für das Familienunternehmen. Der unter falschem Namen beigesetzte Leichnam wird exhumiert und identifiziert.

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Viele Gerüchte kursieren in den 1960ern in Europa über die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs untergetauchten Nazis. Einer der prominentesten ist der "Todesengel von Auschwitz" Josef Mengele. Der ehemalige Lagerarzt lebe im südamerikanischen Versteck als Drogenbaron in Saus und Braus, wird gemutmaßt. Andere meinen zu wissen, er habe sich das Gesicht operieren lassen und gehe mit dem ebenfalls chirurgisch unkenntlich gemachten Martin Bormann in den besten Lokalen Lateinamerikas essen.

Heiteres Netzwerk aus Nazis

Solche Spekulationen lassen zwar die Auflagen der Zeitungen hochschnellen. Doch das einstmals tatsächlich recht süße Leben auf der Flucht ist für Mengele zu der Zeit bereits vorbei. Davon erzählt der Franzose Olivier Guez in Das Verschwinden des Josef Mengele. Der 200 Seiten schmale, aber detailreiche Band deckt die 30 letzten Lebensjahre Mengeles ab.

1949 war er unter dem Namen Helmut Gregor nach Buenos Aires übergesetzt. Hier hakt der Autor ein. Er beschreibt den holprigen Start am anderen Ende der Welt und wie es dann komfortabler wird. Als Händler für die Landmaschinen seines Vaters erreicht Mengele inkognito binnen kurzer Zeit ein angenehmes Auskommen. Er wagt sich zunehmend aus dem Versteck heraus und in die Kreise der wie er geflüchteten Nazis. Guez beschreibt das Netzwerk als heitere Gesellschaft, man geht zusammen auf Partys und macht Ausflüge.

Argentinien war nach 1945 ein guter Ort für die Nazis und andere Schlächter Europas. Präsident Juan Perón spekulierte auf die gegenseitige Ausrottung der USA und Russlands im Kalten Krieg. Die früheren Wissenschafter und Ingenieure des Dritten Reiches sollten Argentinien zur nächsten Supermacht machen. Die Nazis nützten diesen Schutz aus, hofften ihrerseits aber – viele erst um die 40 Jahre alt – auf eine Rückkehr nach Europa. Das Dritte Reich sollte wiedererstehen.

Reiche Quellen, schillerndes Bild

Im Anhang listet Guez seine Quellen auf: Erinnerungen Überlebender, Forschungen, Biografien. Auch Tagebuchnotizen Mengeles dienten ihm als Material. So stehen viele Informationen bereit, die für sich genommen keine neuen Erkenntnisse sind, in diesem Protokoll aber zum üppigen, schillernden wie auch schaurigen Bild zusammenfließen.

Dass dessen zweite Hälfte düsterer wird, dazu trägt vor allem der Mossad bei. Deutschland will vergessen, die USA haben mit den Sowjets andere Sorgen. 1956 etwa konnte Mengele unter seinem echten Namen einen deutschen Pass beantragen! Die Welt wird sich der Nazi-Greuel erst noch sehr bewusst werden, Bücher und Filme zum Thema werden erscheinen. Nur der israelische Geheimdienst jagt in den 1950ern indes ernsthaft die Untergetauchten.

Als der Bürokrat des Holocaust, Adolf Eichmann, 1962 in Jerusalem hingerichtet wird, ist Mengele dem Zusammenbruch nahe. Er lebt auf einer Farm in Brasilien. 30 Mal am Tag wäscht der ehemalige Arzt sich noch immer die Hände und reibt seine Unterarme mit Kernseife ein. Ein ungarisches Ehepaar gewährt ihm gegen stattliche Bezahlung Unterschlupf. Jetzt werden sie auch ihn kriegen! In Tagebüchern schreibt er seine Verzweiflung und den Hass auf. Dass er selbst den Agenten gerade tatsächlich nur durch Zufall und um Haaresbreite entwischt ist, weiß er nicht. Auch nicht, dass ihm Verfolger nie mehr näher kommen sollten.

Trotz Aggressionen wird er noch zweimal gemeinsam mit den Ungarn umziehen. Er hat niemanden sonst. Nach Jahren werfen sie den ungeliebten Hausgast doch hinaus und er haust fortan einsam in einem Armenviertel. Die Angst, gefasst zu werden, wird Mengele bis zum Tod 1979 nicht mehr loslassen. Reue entwickelt er allerdings nie.

Erst sechs Jahre nach Mengeles Tod bricht die Familie in Deutschland ihr Schweigen. Sie hat ihn bis zuletzt finanziert und fürchtet einen Imageschaden für das Familienunternehmen. Der unter falschem Namen beigesetzte Leichnam wird exhumiert und identifiziert.

Das Böse ist wenig souverän

Eine Mischung aus Zufällen und Nachlässigkeiten pflastert Mengeles Davonkommen. Das macht seine Biografie noch beklemmender. Kann man so einen Text literarisch lesen? Nein. Man will immer wissen, was belegt und was dazuerdichtet ist. Guez führt mit sicherer Hand, hält sich als Romancier aber im Hintergrund. Die Umstände zu schildern wirft genug ab. Denn das Böse ist nicht nur banal, es ist oft genug auch alles andere als souverän.

Etwa wenn die Haare, die Mengele dem zur Tarnung gewachsenen Schnurrbart über Jahre abkaut, sich in seinem Bauch zum Darmverschluss ballen. Oder wenn Mengele in den ersten Jahren in Buenos Aires seine Frau Irene vermisst, die nicht mit ihm flüchten wollte. Er schreibt ihr dann flehende Liebesbriefe heim und sie rät ihm postwendend, sich einen Hund zu kaufen. Was er auch tut. Oder wenn der Nazi-Organisator Eichmann in Argentinien mit einem Waschsalon und einer Angorakaninchenzucht binnen kurzer Zeit pleite macht – darf man über all das lachen? Man kann beim Lesen nicht anders. So erschütternd die Details sind, so abstrus sind viele eben auch.

Hart geht der so sehr an den Belegen orientierte Autor etwa mit Simon Wiesenthal ins Gericht, der seine Rolle als Nazijäger oft ausgeschmückt habe. Es ist nicht Guez' erste Befassung mit dem Nationalsozialismus. In Heimkehr der Unerwünschten (2011) erzählte er von Juden, die nach 1945 in Deutschland weiterlebten, gemeinsam mit dem Regisseur Lars Kraume schrieb er das Drehbuch für den Film Der Staat gegen Fritz Bauer (2015). Für vorliegenden Roman wurde Guez 2017 mit dem renommierten Prix Renaudot ausgezeichnet. Was bannt ihn am Thema? Heute seien solche Geschichten – mehr als noch vor ein paar Jahren, meint er – wieder Warnung. (Michael Wurmitzer, 27.8.2018)