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Ein Blick ins Innere: Wie geht das, auf "agil" umstellen?

Foto: Reuters

Wer im Internetgeschäft unter 20 Prozent im Jahr wächst, macht etwas falsch. Was aber tun, wenn das Onlinegeschäft nicht in diesem Ausmaß wächst?

Es gibt natürlich verschiedenste Ansätze: Onlinepreise senken und auf die allerletzte Marge verzichten, unfassbare Summen in den unersättlichen Schlund der Suchmaschinen und sozialen Medien werfen, den supererfolgreichen digitalen Wunderwuzzi direkt aus dem Silicon Valley akquirieren ... Das alles wird helfen, aber die Frage ist: wie nachhaltig? Und es bleibt die Frage, ob man es tatsächlich schafft, eine Transformation im großen Stil hinzubekommen und vom digitalen Wandel dauerhaft zu profitieren.

Oder man fängt an, das gesamte digitale mikroökonomische System innerhalb der eigenen Organisation zu hinterfragen. Erstmals seit der Entdeckung der Gesetzmäßigkeit von Angebot und Nachfrage ist es im Internet nämlich wirklich so, dass der Kunde König ist. Das heißt, all unser Tun und Schaffen muss beim Kundenprozess ansetzen. Also nennen wir eine neue Organisationseinheit nicht Vertrieb oder Marketing, sondern beispielsweise "Kunde möchte ein Produkt XYZ kaufen". Und alles Schaffen wird radikal dieser Prämisse untergeordnet. Schön ist, dass auch ein kundenorientierter Prozess im Internet absolut eindeutige und klare Messkriterien (sogenannte Key-Performance-Indicators, KPIs) haben kann. Nämlich wie viele Produkt XYZ die Kunden denn nun online gekauft haben und außerdem wie zufrieden sie mit dem Prozess waren.

Next step

Als Nächstes hinterfragen wir die Organisationsstruktur. Große, arbeitsteilige Organisationen haben den Vorteil, viele Dinge gleichzeitig erledigen zu können. Der große Nachteil dieser ultragroßen Schiffe ist aber ihre Manövrierfähigkeit, sprich die Umsetzungsgeschwindigkeit bei einzelnen Aktivitäten. Und hier kommt das Killerkriterium: Im jungen Onlinegeschäft haben wir es überproportional mit Generation-Y- und -Z-Menschen zu tun. Also sterben wir einen doppelten Tod: Einerseits sind wir im traditionellen Wasserfall der IT-Organisationen nicht schnell genug, um mit den Innovationen Schritt zu halten, andererseits können wir die Ansprüche der hyperdynamischen Mitarbeitergeneration nicht zufriedenstellen. Diese sind innerhalb kürzester Zeit unzufrieden, und die Performance akzeleriert noch weiter nach unten.

Es ist einfach – teilweise

Spotify hat hierfür einen Lösungsvorschlag, der aber nicht ganz trivial ist: Wie bauen viele kleine, cross-funktionale Teams (ähnlich wie Start-ups) im großen, traditionellen Konzern. Diese nennen wir Squads. In einer Squad gibt es einen Prozess-Owner, der einen KPI umgehängt bekommt, der Squad teilen wir verschiedenste cross-funktionale Mitarbeiter aus anderen Bereichen zu, dann stellen wir die Entwicklung auf Agilität (meistens Scrum) um, und los geht's. Klingt einfach, ist es auch ... teilweise. Die Schwierigkeit einer solchen Umstellung ist nämlich die Umstellung selbst. Das alles kann nur funktionieren, wenn wir folgende Voraussetzungen erfüllen:

  • Vertrauen Ein Management, das den handelnden Personen absolut vertraut. Denn die Umstellung wird radikal sein und alles bisher erfolgreich Erprobte infrage stellen. Vom Controlling über die Werbung bis zum Einkauf. Nur so ist eine Transformation möglich.
  • Ziele Ein KPI-orientiertes Performancemanagement mit totaler Handlungsfreiheit. Sprich die Wege, welche die Squad einschlägt, sind ihr völlig eigenverantwortlich überlassen. In bestimmten Zeitabständen wird überprüft, ob die Zielerreichung messbar ist und ob die Methoden der ganzheitlichen Unternehmensstrategie (z. B. Systemarchitektur, Datenschutz, Markenstrategie etc.) entsprechen.
  • Zeit Wandel braucht Zeit. Das Arbeiten in Scrum braucht viele Sprints, um sich selbst zu optimieren. Weil nämlich am Ende Menschen an der Methode arbeiten, und die müssen sich auch in agilen Arbeitsweise zuerst zusammenraufen.
  • Skills Das Arbeiten in agilen digitalen Teams braucht Skills, die eine traditionelle Unternehmung meist nicht hat. Agile Produkt-Owner, Scrum-Master, Usability-Spezialisten, SEA/SEO-Menschen, Softwareentwickler, Analysten und Data-Miner sind allesamt Profile, die man wahrscheinlich zuerst zukaufen und dann selbst ausbilden muss.
  • Skalierung Die erste Squad aufzusetzen, sie mit den besten Leuten zu besetzen, mit den notwendigen Skills auszustaffieren und auf agile Methoden zu trainieren, ist schwierig genug, aber man wird relativ rasch Erfolge sehen. Die Exzellenz liegt dann in der Skalierung, sprich in der Ausweitung des Systems auf mehrere Squads, die parallel laufen. Wo findet man ausreichend Menschen mit den notwendigen Skills, wo setze ich die Menschen hin, damit sie die Wände vollkleben können, wie verhindere ich, dass jeder in eine andere Richtung programmiert, und am Ende entstehen Code-Inseln und Legacy-Systeme, die hinten und vorn nicht zusammenspielen?

Alles klar

Wir brauchen einerseits eine strikte Konzentration auf Kundenprozesse, messbare KPI und eine klare, transparente Organisation. Alles klar! Alles schon gehört. Also brauchen wir eine straffe Hierarchie und klare Top-down-Vorgaben? Autokratische Leader mit stahlhartem Durchsetzungsvermögen? So hätten wir das in den 1980ern gelöst, damals auch mit Erfolg, aber heut sind da diese Verrückten, diese Wahnsinnigen aus der Generation Y und Z, die "echt keinen Bock auf das 80er-Gelaber haben". Also brauchen wir eine neue Methodik.

  • Scrum – die Methodik, bei der "jeder machen kann, was er will". Ernsthaft? So oder so ähnlich haben wir das doch alle schon öfter gehört. Dabei ist Scrum wahrscheinlich die strukturierteste Arbeitsmethode, die man sich überhaupt vorstellen kann. Aus der Software-Development-Ecke hat sich eine Vorgehensweise für agiles Arbeiten etabliert, die so gut wie in jedem professionellen Arbeitsbereich angewendet werden kann. Denn im Prinzip folgt Scrum nur drei Grundsätzen:
  • Transparenz Jeder im Scrum-Team kennt den Aufgabenbereich, den Backlog für den nächsten Sprint, den kurzen Zwei- bis Vier-Wochen-Zyklus, in dem ein Scrum-Team plant. Jeder in der Squad also weiß, was er zu tun hat bzw. bis wann er zu liefern hat und welche Abhängigkeiten auch nicht liefern können, wenn was zu spät ist.
  • Überprüfung Das Team setzt auf schnelle, vermarktbare Umsetzungen, sogenannte Minimum-Viable-Products (MVPs). Je einfacher, desto besser, Hauptsache schnell ausprobieren, ob es funktioniert.
  • Anpassung Wer schnell ausprobiert, kann schnell lernen und adaptieren. Sprich in jedem Sprint kann der Fokus geändert werden. Und eine andere Sache kommt in den Backlog, der von den Scrum-Mitgliedern abgearbeitet wird. Völlig transparent, siehe oben ...

Aber wie stellen wir sicher, dass diese Scrum-Teams in die richtige Richtung arbeiten? Ganz einfach: Es gibt ja diesen KPI! Wenn wir alle ein bis zwei Monate alle Stakeholder in ein Sounding-Board einladen, kann jeder klar und transparent sehen, wohin man sich bewegt bzw. entgegensteuern, wenn er glaubt, dass was schiefläuft.

Haben wir diese Voraussetzungen für eine agile Organisation geschaffen, können wir endlich über die wichtigsten Protagonisten einer disruptiven Transformation sprechen: den einzelnen Mitarbeiter, in unserem Fall die ganz spezielle Spezies der Generation Y und Z. Bestens ausgebildete, wahnsinnig intelligente, hochgradig digitalisierte, leistungsbereite, dynamische Menschen haben blöderweise einen großen Nachteil: Sie fordern! Und wenn ihren Forderungen nicht entsprochen wird, dann gehen sie. Vielleicht zum Konkurrenten, aber eher noch auf Weltreise oder zum Spanischlernen nach Südamerika oder zurück an die Uni, um Philosophie zu studieren. Weil dieses liberale Leistungsdenken macht ja ohnehin alles keinen Sinn. Also müssen wir ihrem Handeln einen Sinn geben.

In der Praxis stellt sich heraus, dass ein sehr pragmatischer Sinn tatsächlich durch den zentralen KPI geschaffen werden kann. Die einzige Prämisse dieses Sinnes ist: Er muss Sinn ergeben. Das heißt, der KPI muss smart sein (bitte im Internet selbst nachlesen; hier kurz zur Erinnerung die Bestandteile: spezifisch, measureable, achievable, relevant, time-based). Sonst macht er nämlich keinen Spaß, das ist so wie beim Monopolyspielen: Lustig wird es erst, wenn man Häuser auf den guten Grundstücken hat.

Sinnstiftende Ziele

Wenn wir jetzt zurückkommen zur Squad, die wir "Kunde möchte ein neues Produkt XYZ kaufen" genannt haben, schließen wir diesen Kreis. Wie oben beschrieben, sind die wichtigsten und smarten KPIs dieser Squad bereits in ihrem Namen enthalten: Anzahl der gekauften Produkte XYZ! Vielleicht führen wir zusätzlich noch einen Net-Promoter-Score (NPS) ein, um die Usability zu messen. Fertig ist das smarte, sinnstiftende Ziel.

Wenn es gelingt, diese beiden smarten KPIs auch noch so darzustellen, dass die Auswirkungen jeder einzelnen Aktivität der Squad (= des Scrum-Teams) auf diesen KPI sichtbar werden, werden wir sehr schnell und eindeutig beobachten können, wie Selbstorganisation funktioniert. Wie Vertrauen und individuelle Freiheit in agiler Arbeitsweise zu ungeahnten Höchstleistungen motivieren können.

Es funktioniert tatsächlich. Ich erlebe es jeden Tag. Man muss es nur tun. (25.10.2018)