Die Sorge, dass Eliten ihren Steuerbeitrag nicht leisten oder Steuergelder verspekulieren, sollte größer sein.

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Wenn Sie an "Kriminalität" denken, was kommt Ihnen da als Erstes in den Sinn? Korruption, Finanzbetrug, Bilanzfälschung, Geldwäsche, Steuerhinterziehung oder Subventionsbetrug? Mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht, denn das Verbrechen wohnt auf der Straße. Folgt man dem dominanten politischen Diskurs, so entsteht Kriminalität im Keller der Gesellschaft, im Umfeld der Armut. Das stellte der Soziologe Edwin Sutherland bereits vor 80 Jahren fest.

Die weit verbreitete Vorstellung von Kriminalität als Gewaltverbrechen wie Raub, Überfall oder Mord spiegelt allerdings nur einen Ausschnitt der Realität wider, nämlich jenen, bei dem die Täter überwiegend aus wenig privilegierten Milieus stammen. Die Delikte sogenannter oberer Klassen, die im großen Stil im Geschäftsleben stattfinden, werden kaum im gleichen Maße problematisiert und sichtbar gemacht.

Rapport, Recht und Gerechtigkeit

80 Jahre später ist diese Problematik aktueller denn je. Auch heute besteht ein großer Unterschied darin, wie die Öffentlichkeit verschiedene Formen von Verbrechen wahrnimmt und wer diese begeht, insbesondere aufgrund der Art, wie Medien darüber berichten. Regelmäßig sehen wir Berichte über Straßenkriminalität, sie sind das tägliche Brot und die auflagenfördernde Würze der Yellow Press.

Wie Kriminalität in den Massenmedien dargestellt wird, wirkt in hohen Maßen auf die eigene Meinungsbildung, spiegelt allerdings oft eine ganz eigene Wirklichkeit wider. Der Fokus liegt auf Berichten über Sexual- und Gewaltdelikte, die vorherrschenden Angstfiguren und mutmaßlichen Täter sind Einwanderer und Geflüchtete. Was untergeht, sind die zahlreichen Straftaten, die in der Hochfinanz stattfinden und Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern einen umfangreichen Schaden einbringen. Ein gängiges Sprichwort, das zwischen Resignation und Sarkasmus pendelt, fasst es so zusammen: Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen.

Helden, die über dem Gesetz stehen

Die großen Namen der Wirtschaftskriminalität werden zu Heldenfiguren, ihre Persönlichkeiten gehören zur Allgemeinbildung. Die Täter werden in Filmen und Fernsehserien oft als Macher, Erfolgstypen, als Elite dargestellt, die von jungen, attraktiven Frauen umgeben sind, smart und kreativ agieren, das System durchschaut haben und darauf spielen wie auf einem Klavier. Wenn ihr riskantes Spiel verloren ist, dann liegt das Leid nicht am gesellschaftlich verursachten Schaden, sondern in der persönlichen Blamage und Pein. Die Tragik zeigt sich darin, dass der Protagonist seinen Lebensstil aufgeben muss, nicht an den Kosten, die die Bevölkerung als Konsequenz zu tragen hat.

Generell wird den großen Unternehmen, vermögenden und einflussreichen Personen anerkennend die Fähigkeit zugeschrieben, alle Möglichkeiten, Nischen und Sonderfälle unter den gegebenen Gesetzen vollständig auszureizen. Weiters sind sie in der Lage, Geschäfte im Grenzland der Legalität so anzulegen, dass der Nutzen maximiert wird und alle Strafen und Risiken abgehalten werden, sowie aus allen bewusst eingegangenen Gesetzesbrüchen und sonstigen Regelverstößen straffrei herauszukommen. Schließlich haben sie die Macht, die Gesetzesentstehung und Gesetzesweiterentwicklung durch Lobbying, Influencing und – zum Teil auch – Korruption sogar mitzuformen und zu steuern.

Verbrechensopfer und Schadensdimension

Empörung wird dadurch jedoch kaum hervorgerufen. Um ein Ungerechtigkeitsgefühl auszulösen, ist insbesondere das Bild eines personifizierten Opfers hilfreich. Verbrechensopfer werden jene genannt, die man individuell verorten kann: Diese Person wurde ausgeraubt und hat damit jenen finanziellen Schaden erlitten. Das können Wirtschaftsskandale und Betrugsaffären in dieser Form nicht bieten. Auch deshalb ist es populärer, als große Masse entrüstet die Aufmerksamkeit auf die mutmaßlichen Straftäter der Straße zu richten und in die "subjektive Sicherheit" vor der eigenen Haustür zu investieren.

Ein Blick auf die Statistiken verdeutlicht allerdings die drastische Schadensdimension der Finanzkriminalität, die tief in den Alltag der österreichischen Bevölkerung hineinreicht. Ein paar Beispiele:

Den höchsten verborgenen Anteil und Graubereich gibt es bei der Korruption und all ihren Vorformen. Für das größte Aktionsfeld der Korruption, die Wettbewerbsbehinderung und Wettbewerbsumgehung, gibt es regelmäßige Studien mit dem Titel "The Cost of Non-Europe" (Cecchini Report). 2014 nannte der Bericht für Österreich eine Gesamtschadensschätzung aller gegen den offenen Binnenmarkt gerichteten Antiwettbewerbsmaßnahmen von 2,14 Prozent des BIP.

Zusammen ergeben diese vorsichtigen Schätzungen der Finanz- und Wirtschaftskriminalität rund ein Sechstel (15 Prozent) des Bruttoinlandsprodukts. Ein schönes Stück des allgemeinen Lebensstandards und Wohlstands – soweit das BIP als Wohlstandsindikator funktioniert.

Den blinden Fleck beseitigen

Die jüngsten Maßnahmen zeigen sehr deutlich: Der öffentliche Fokus im Bereich Kriminalität ist klar auf die Straße gerichtet. In Wien werden Fahrradpolizisten aufgestockt und bei einer "Aktion scharf" Strafen für Missachtungen des Rotlichts, Telefonieren am Rad und Befahren des Gehsteigs ausgeteilt. Zur Bekämpfung von Straffälligen werden Elektroschockpistolen eingeführt sowie eine Reiterstaffel eingesetzt, deren Startbetrieb rund 380.000 Euro ausmacht.

Berittene Polizei auf Wiens Straßen.
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Die Statistiken lassen jedoch eindeutig erkennen: Die Sorge, dass Eliten ihren Steuerbeitrag nicht leisten oder Steuergelder verspekulieren, sollte eigentlich größer sein. Allein durch Steuerflucht von multinationalen Konzernen entgehen Österreich bis zu 900 Millionen Euro an Einnahmen im Jahr (The Missing Profits of Nations). Informationen wie diese erreichen uns regelmäßig, etwa wenn investigative Journalistinnen und Journalisten wieder einmal Unterlagen über Luxemburg, Irland, Panama oder Paradise Papers veröffentlichen. Politisches Vorgehen dagegen ist nicht einfach, da die oft länderübergreifenden Sachverhalte der Delikte die Behörden vor große Herausforderungen stellen. Doch es fehlt auch eindeutig am Willen.

Während in kürzester Zeit ohne spezifischen Anlass polizeiliche Maßnahmen auf der Straße ausgebaut werden, wartet man auf hartes Durchgreifen im Wirtschaftsbereich vergeblich. Damit entstehen dem Staat enorme finanzielle Verluste, deren Kosten Bürgerinnen und Bürger zu tragen haben. Finanzkriminalität beeinträchtigt das staatliche Gemeinwesen und das Wirtschaftswachstum zutiefst negativ. Aus diesem Grund gilt es die Frage, wer zu den Nutznießern des Systems zählt, neu zu diskutieren. (Laura Wiesböck, 7.9.2018)