Yuval Noah Harari beschäftigt sich mit allem – von Algorithmen bis zur Meditation.

Foto: imago/VCG

Nur zwei Bücher haben einen unbekannten israelischen Historiker zu einem globalen intellektuellen Rockstar gemacht. Yuval Noah Harari hat mit seinem ersten Wälzer Sapiens (Deutsch: Eine kurze Geschichte der Menschheit), der 2011 erstmals erschien, einen völlig neuen Blick auf die Entwicklung unserer Gattung und Zivilisation geöffnet und 2016 in Homo Deus eine ebenso spannende wie erschreckende Zukunftsvision des Menschen entworfen.

Sein drittes Buch 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert, das gerade auf Englisch erschienen ist, will die Lücke zwischen Gegenwart und ferner Zukunft mit ebenso viel Geist füllen. Das gelingt dem 42-jährigen nur zum Teil. Es bietet eine höchst unterhaltsame Tour d'Horizon über die aktuellen Probleme der Menschheit, versprüht dabei oft Witz und Klugheit, verzettelt sich aber auch in zahlreichen Nebensträngen und bleibt zu oft an der Oberfläche.

Warum Brexit und Trump?

Das Buch setzt an der gleichen Frage wie viele andere populäre politische Werke unserer Zeit an: Warum ist der liberale Traum von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Wohlstand der 1990er-Jahre, Francis Fukuyamas Ende der Geschichte, so schnell wieder geplatzt und hat die Verirrungen von Brexit und Donald Trump hervorgebracht? Für Harari erleben wir mit dem "Trump-Moment" die dritte tiefe Krise der liberalen Ideologie nach dem "Franz-Ferdinand-Moment" 1914 und dem "Hitler-Moment" 1940. Von den ersten beiden hat sich der Liberalismus wieder erholt. Wird das jetzt wieder gelingen?

In seinen 21 Kapiteln macht Harari klar, wie sehr er einer ganz besonders humanen Ausformung des Liberalismus verbunden ist – er ist schwul und vegan und hält die Massentierhaltung für das vielleicht schlimmste Verbrechen der Menschheit. Aber hat dies eine Chance, oder wird die Verbindung von neuer Technologie und alter Irrationalität die Welt ins Unglück stürzen? Harari hat darauf keine klare Antwort, schwankt zwischen düsteren Prognosen und der Hoffnung, dass sich die Vernunft doch noch durchsetzen wird.

Der Mensch ist ein Erzähler

Zwei Themen, die seine Fans bereits aus den früheren Büchern kennen, blitzen immer wieder auf: einerseits die Erkenntnis, dass die wichtigste Eigenschaft des Homo sapiens das Erfinden von mythischen Erzählungen ist, durch die auch sehr große Gruppen eine Zusammengehörigkeit entfalten und so kooperieren können. Ohne diese Mythen gäbe es keine Zivilisation. Doch gleichzeitig sind diese Mythen – vor allem Nationalismus und Religion – ein Hindernis für die Bewältigung der globalen Herausforderungen von heute.

Dazu zählt für Harari die große Sorge, dass die Kombination von Informations- und Biotechnologie die Menschheit spalten wird in eine Elite, die einen neuen Übermenschen schafft, und eine nutzlose Masse – eines der Kernthemen von Homo Deus. Und die IT-Revolution werde nicht nur Algorithmen schaffen, die uns Menschen besser kennen als wir selbst, sondern auch zentralistischen Diktaturen einen massiven Vorteil gegenüber freien Gesellschaften verschaffen. Denn wenn der Computer alles weiß, dann kann er anders als die ehemalige Sowjetunion eine produktive Wirtschaft planen – und vielleicht sogar wie in George Orwells 1984 die Gedanken kontrollieren.

Olympische Spiele 1016 in Rio?

Aber die 21 Lektionen müssen den Leser dennoch nicht zum Verzweifeln bringen. Denn dafür ist Harari in vielen Passagen einfach zu witzig. So etwa, wenn er erklärt, warum es sehr wohl eine globale Zivilisation (und keinen "Kampf der Kulturen") gibt, und dafür das Beispiel der Olympischen Spiele 2016 in Rio de Janeiro verwendet, an denen rund 200 Länder teilnahmen. Tausend Jahre früher wäre das nicht möglich gewesen, und das nicht nur, weil der Großteil der Welt von Amerika nichts wusste. Es gab damals keine Staaten mit einheitlichen Normen.

Beim so sorglosen Umgang mit Daten, dem heute wertvollsten Rohstoff der Welt, vergleicht Harari den Durchschnittsverbraucher mit Amerikas Ureinwohnern, die ihr Land für Glasperlen an die Europäer verkauft haben. Und beim Thema Fake-News zeigt sich Harari wenig besorgt: Dass sehr viele Menschen den gleichen Unsinn glauben, habe es immer schon gegeben. "Wenn tausend Menschen einen Monat lang an eine erfundene Geschichte glauben, dann ist das Fake-News. Wenn eine Milliarde Menschen daran tausend Jahre glauben, dann ist es eine Religion."

Ebenso absurd sind für ihn nationalistische Mythen, einschließlich die seiner eigenen Heimat Israel, die ein etwas zu großes Gewicht im Buch hat. Aber auch die liberale Erzählung hat massive Schwächen, betont er.

Wo Science-Fiction irrt

Inhaltlich besonders überzeugen Hararis Überlegungen zur Zuwanderung in Europa, deren vielschichtige Problematik er analytisch klug zerlegt, und sein Appell, die Gefahr des Terrorismus nicht zu überschätzen, weil das den Terroristen in die Hände spielt. Immer wieder greift er auf populäre Filme zurück – Disneys König der Löwen hat es ihm besonders angetan –, um seine Gedanken zu illustrieren, was gelegentlich in die Banalität abgleitet. Er hält nichts von aktueller Science-Fiction und dem Szenario, dass Maschinen Bewusstsein erlangen werden. Falsch: Ihre Herrschaft wird auf alles wissenden Algorithmen beruhen.

Im letzten Drittel drehen sich seine Erläuterungen zunehmend um Fragen wie "Was ist Wahrheit?" und "Was ist der Sinn des Lebens?", auf die er selbst keine Antwort weiß, aber herkömmliche Vorstellungen auf oft köstliche Weise zerlegt. Und selbst das Schlusskapitel, in dem Harari von seiner Liebe zu Meditation erzählt, überzeugt auf seine Weise: Den eigenen Körper zu spüren und den eigenen Atem zu hören ist vielleicht wirklich das einzige Reale, das der Mensch erleben kann.

Die Lektüre von Hararis Buch ist wie ein langer Abend mit einem höchst eloquenten und weisen Menschen, der über Gott und die Welt doziert und dabei von einem Thema zum nächsten springt. Man glaubt danach, die Welt zu verstehen, kann sich aber am nächsten Tag nur noch an wenig erinnern. Zum globalen Guru ist Harari schon mit seinen ersten beiden Büchern geworden. Nun hat er sich entschieden, im Sinne von Isaiah Berlin nicht mehr ein Igel mit einer großen Idee zu sein, sondern ein Fuchs, der vieles weiß. Auch wenn das 21. Jahrhundert nach 21 Lektionen ruft – weniger hätten es auch getan. (Eric Frey, 30.8.2018)