Vertieft in Chopin: Jeung Beum Sohn.

Foto: Tiberio Sorvillo

Südtirol ist schön. Warum aber kommt man in Zeiten der Globalisierung nach Bozen? Genau: wegen Südkorea. "Fernost first" heißt die Devise auf dem Erdenrund, Donald Trump zum Trotz. China kauft deutsche Industriebetriebe auf, und Südkorea überschwemmt die Welt mit Smartphones, Autos und K-Pop.

Auf dem Klassikmarkt bahnt sich im Klavierfach eine freundliche Übernahme seitens Südkoreas an, das zuletzt große Wettbewerbe dominierte: 2015 hat Seong-Jin Cho den Chopin-Wettbewerb in Warschau gewonnen, Chloe Mun hat im selben Jahr beim Busoni-Wettbewerb in Bozen reüssiert. 2017 war Jeung Beum Sohn Erster beim ARD-Wettbewerb, so wie Yekwon Sunwoo beim Van-Cliburn-Wettbewerb.

Gibt es einen Grund für diese Ballung südkoreanischer Sieger? Dieser Frage ließ Peter Paul Kainrath nachgehen, künstlerischer Leiter der Stiftung des Busoni-Wettbewerbs und Koordinator des Bolzano Festivals Bozen. In einem Symposium wurde versucht, das koreanische Klavierwunder aufzuklären, Hilfestellung dazu bot die Doku von Thierry Loreau und Pierre Barré, The Korean Musical Mystery: Er gibt Einblick in den Übe-, Unterrichts- und Wettbewerbsalltag der Musiker, vom Schüler über den Studenten bis zur arrivierten Künstlerin.

Jeder zweite Grundschüler lernt Klavier

Man erfährt vom Basisunterricht – in der 51-Millionen-Nation lernt jeder zweite Grundschüler Klavier! -, von der Selektion durch Schulen und staatliche Spitzeninstitute wie K-Arts. Man erfährt von der Disziplin der Schüler (Autoritäten wie Lehrer oder Eltern würden in Korea vorbehaltlos akzeptiert). Und den Wettbewerb, das Messen mit anderen, das lieben anscheinend sowieso alle.

Man sieht allerdings auch blasse, ausgelaugte Teenager, deren Immunsysteme von Muttis Vitaminen vor dem Zusammenbruch bewahrt werden sollen. Man erblickt Teenager, die auf dem Konzertpodium einmal von intensiven Emotionen erzählen sollen. Nur dass sie leider keine Zeit für ein Gefühlsleben haben, da sie täglich üben, bis ihnen die Augen zufallen: Fleißautomaten, menschliche Leerstellen mitunter.

Vorbildlich austarierter Abläufe

Als Erzähler welchen Charakters zeigen sich die Kompetitionskaiser, die Kainrath nach Bozen gebeten hat? Chloe Mun spielt im Palazzo Mercantile ein Schumann-Programm. Die 22-Jährige kanalisiert die überschäumenden Springfluten der C-Dur-Fantasie in vorbildlich austarierte Abläufe. Es ist eine eher feminine Deutung, Mun verzichtet auf großspuriges Auftrumpfen, meidet Zuspitzungen, malt Stimmungen in Sepiatönen. Und kreiert Klangräume, die mit dem Samt der Melancholie ausgeschlagen sind.

Auch Jeung Beum Sohn meidet zirzensischen Zauber. Chopins zwölf Etüden op. 25 präsentiert der 27-Jährige im Studio des Stadttheaters als Suite sorgsam gezeichneter Stimmungsbilder, die sich am Ende zu Größe und Kraft weiten. Sohns Stil zeichnet Bedächtigkeit und eine gewisse Gentleman-Komponente aus, bei Prokofiews 7. Sonate überzeugen die poetischen Momente mehr als die kriegerischen.

So glatt poliert

Eigenwilligkeit und Anarchie haben im koreanischen Ausbildungssystem keinen Raum, und auch in den Deutungen der Pianisten findet man nur Spurenelemente davon: alles so rund, so glatt poliert. Aber sind große Künstler nicht mehr als die Summe der Inputs ihrer Lehrer? Oder ähneln sich Pianisten – so wie auch die großen Orchester – heute einfach immer mehr? Sind die Zeiten von Persönlichkeiten wie Martha Argerich, der Busoni-Siegerin von 1957, vorbei?

Yekwon Sunwoo holt sich nach Aufenthalten in den USA den Feinschliff in Hannover bei Bernd Goetzke, der von Arturo Benedetti Michelangeli und Klavierpädagogikkoryphäe Karl-Heinz Kämmerling geprägt wurde. Die Energieströme der Basslinien in Brahms' fis-Moll-Sonate deuten in der Interpretation des kniffligen Werks durch den 28-Jährigen darauf hin. Agilität, Eleganz und Sinnlichkeit mischen sich beim Koreaner raffiniert, der satte Pinselstrich wechselt mit Detailarbeit.

Nach den vier Schubert-Impromptus D 935 trägt einen die Zugabe in Richtung Elysium: In der Rosenkavalier-Paraphrase von Percy Grainger ersetzt Sunwoo spielend ein Orchester. Dieses Schillern, diese Eleganz lässt einen wegschweben ... als wäre diese Musik eine Droge. Und die erfolgreichsten Drogendealer der Klassik, das sind zurzeit wohl die strebsamen Töchter und Söhne Südkoreas. (Stefan Ender aus Bozen, 29.8.2018)