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Die Gesellschaftskritik, die #MeToo äußert, weiter ernst nehmen!

Foto: REUTERS/Issei Kato

Vor einigen Tagen ist ein Fall veröffentlicht worden, in dem ein Doktorand von seiner Professorin, Avital Ronell, einer prominenten und aktiven Unterstützerin der #MeToo-Bewegung, mindestens sexuell bedrängt, wenn nicht missbraucht worden ist. Im Gegensatz zur Debatte um Asia Argento, in der das Verhalten Argentos eindeutiger verurteilt wird, scheinen die Reaktionen Ronells und die ihres Umfelds auf diesen Vorwurf offenbar zunächst ähnlichen Verteidigungslogiken zu folgen wie bei Übergriffen durch männliche Täter: Die Glaubwürdigkeit der betroffenen Person wird relativiert, die Bedeutsamkeit der tätlichen Person wird hervorgehoben, und (öffentliche) Kreise von Unterstützerinnen und Unterstützern formieren sich.

Das hat, verstärkt durch die Beschuldigungen gegen Argento, eine öffentliche Debatte um die Glaubwürdigkeit der #MeToo-Aktivistinnen und der ganzen Bewegung ausgelöst: Wenn es keine Unterschiede gibt, wie sich die Geschlechter in Machtpositionen verhalten – einmal als Täterin oder Täter, einmal als Betroffene oder Betroffener –, ist dann #MeToo überhaupt noch als eine feministische Kritik zu verstehen? Oder tritt sexuelle Gewalt nicht einfach immer in Abhängigkeitssituationen auf, unabhängig vom Geschlecht? Sind Männer nicht genauso von sexueller Gewalt betroffen, nur redet darüber niemand? Und sind "die Feministinnen" nicht genauso schlimm wie diejenigen, die sie kritisieren?

Die "New York Times" griff diese Fragen auf, indem sie titelte: "What Happens to #MeToo When a Feminist Is the Accused?" Dahinter verbirgt sich eine gefährliche Relativierung, in die die #MeToo-Debatte gerade abzurutschen droht und die ihr die unangenehme Spitze zu nehmen versucht.

Strukturelle Unterschiede

Denn die Antwort auf diese Frage lautet schlicht: Nichts! Zunächst: Auch Frauen können Täterinnen in Fällen von (sexueller) Gewalt sein, das sollte immer schockieren, aber nicht überraschen. Trotzdem gilt es, zwischen den Erfahrungen, die Männer und die Frauen erleiden, einen Unterschied zu betonen, der gerade zu verwischen droht. Das darf nicht als die Behauptung verstanden werden, dass die eine Gewalterfahrung schlimmer als eine andere zu beurteilen sei. Es geht vielmehr darum, zwischen den gesellschaftlichen Bedingungen zu differenzieren, in denen eine solche Gewalt stattfindet.

Es gibt signifikante strukturelle Unterschiede, in denen die Gewalterfahrung der Geschlechter eingebettet ist. Dies zu übergehen hieße, die Gesellschaftskritik, die #MeToo äußert, nicht ernst zu nehmen. Natürlich finden wir in allen Situationen mit Machtgefällen, seien es universitäre Institutionen, sei es die Filmbranche, in besonderem Maße Ausübungen von Gewalt, die zuungunsten der niedrigeren Position ausfallen, unabhängig des Geschlechts. Dies sollte selbstverständlich problematisiert und sichtbar gemacht werden, doch geht es bei #MeToo um die Kritik an einer Gesellschaft, die Gewalt an Frauen systematisch begünstigt und (re)produziert.

Machtpositionen und Männlichkeitsbilder

Die Thematisierung von Gewalt gegen Männer und Frauen, wie sie innerhalb gesellschaftlicher Institutionen und des Alltagslebens stattfindet, unterscheidet sich voneinander allein deshalb schon maßgeblich, da sie nicht von der Frage nach der Verteilung von Machtpositionen zu trennen ist. #MeToo geht es um die Sichtbarmachung ebenjener strukturellen Verankerung von Gewalt gegen Frauen, inklusive systematischer sexueller, ökonomischer, psychologischer und geistiger Gewalt, die dazu führt, dass nicht nur Frauen wesentlich seltener in den machtvolleren Positionen zu finden, sondern eben auch signifikant häufiger von (sexueller) Gewalt in allen Lebensbereichen betroffen sind.

Im Zuge dieser Kritik ist es zwar sicherlich auch von Notwendigkeit, die herrschenden Auffassungen von Männlichkeit zu problematisieren, die unter anderem dazu beitragen, dass (sexuelle) Gewalt gegen Männer nicht ernst genommen wird. Wenn Männlichkeitsbilder mit Stärke, Fähigkeit und sexueller Begierde konnotiert werden, führt das nicht allein zu diskriminierendem und gewaltvollem Verhalten gegenüber Frauen, sondern auch dazu, dass männliche Betroffene von (sexueller) Gewalt als "unmännlich" und "schwach" dargestellt werden und der Gedanke, dass sie sexuelle Handlungen nicht gewollt haben, als unwahrscheinlich erscheint.

Auch dies sind wichtige Themen im Zuge von #MeToo, allerdings sind diese eingebettet in gesellschaftliche Verhältnisse, in denen Männer als aktiver und durchsetzungsfähiger wahrgenommen werden – und unter einem gewissen Druck stehen, diese Bilder zu erfüllen – und entscheidend häufiger machtvollere Positionen bekleiden als Frauen, während Letztere, wie oben schon erwähnt, entscheidend häufiger von (sexueller) Gewalt betroffen sind.

Missachtung feministischer Kritik

Die (sexuelle) Gewalt, die gegen Männer verübt wird, ist daher nicht mit der Kritik von #MeToo gleichzusetzten. Und die (sexuelle) Gewalt, die von Frauen verübt wird, seien es #MeToo-Aktivistinnen oder nicht, ändert rein gar nichts an der Kritik von #MeToo! Die Kritik an einer patriarchalen Gesellschaft und der strukturellen Gewalt gegen Frauen ist schlicht keine von Männern in derselben Weise geteilte Erfahrung, und es ist lächerlich, wenn die Fälle von weiblicher Gewaltausübung als "Gegenbeweis" gegen die Kritik an diesen Verhältnissen herangezogen werden oder dadurch die Glaubwürdigkeit dieser Kritik infrage steht.

Harvey Weinstein hat sich zu den Übergriffen durch die von ihm selbst sexuell missbrauchte Argento über seinen Anwalt als "fast erleichtert" geäußert. Das zeigt, worin die Gefahr in der Relativierung der #MeToo-Kritik hin zu einer von allen Geschlechtern geteilten Erfahrung liegt: Endlich, so scheint es, wird deutlich, dass wir feministische Gesellschaftskritik nicht brauchen, weil alle Geschlechter im selben Maße Gewalt ausüben.

Dass genau darin eine für unsere von gefährlichen Männlichkeitsbildern dominierten Gesellschaften so typische Missachtung feministischer Kritik und der öffentlichen Thematisierung der Bedingungen weiblicher Gewalterfahrung liegt, sollte deutlich geworden sein. (Charlotte Bomert, 31.8.2018)