Das erste Telefonat mit der 19-jährigen Madina und ihrem Mann dauerte eine halbe Stunde. Der zehnjährige Samir (hinten rechts) erinnert sich an den "schönsten Tag seines Lebens".

Foto: ÖRK / Holly Kellner

Als die Taliban vor seiner Praxis standen, war für Sayed Asghar Sha Ghazizada klar, dass er mit seiner Frau und fünf Kindern aus Afghanistan fliehen muss. Die Islamisten forderten von dem Zahntechniker nichts weniger als den Mord an Regierungsbeamten. Mit Giftkanülen sollte der damals 43-Jährige jeden Offiziellen umbringen, der sich bei ihm in Behandlung begab. "Ich wusste, dass die Taliban nach ein, zwei Wochen zurückkehren würden, um zu kontrollieren, ob ich tue, was sie von mir verlangen", erzählt Ghazizada dem STANDARD: "Aber morden, das konnte ich nicht."

Um Mitternacht in die Türkei

Also floh die Familie Ghazizada im Jahr 2015 aus der Provinz Parwan in die nahegelegene afghanische Hauptstadt. Mit Reisepässen wollten sie in den Iran fliegen. Doch die iranischen Behörden schickten sie zurück. Erst ein zweiter Fluchtversuch über die Landesgrenze mit der Hilfe von Schmugglern war erfolgreich. "Wir versuchten, nach Finnland zu gelangen", erzählt Ghazizada. "Dort lebten bereits meine Mutter und meine Schwester." Über den Irak sollte die Familie in die Türkei flüchten, von wo die Überfahrt nach Europa geplant war. "Wir waren eine große Gruppe", erinnert sich Ghazizada. Sie versuchten, um Mitternacht an den Sicherheitsbeamten vorbei in die Türkei zu gelangen. Dann wurden sie entdeckt.

Im Tumult verlor die Familie ihre älteste Tochter: Die 17-jährige Madina wurde zurück nach Afghanistan geschoben. Allein. Doch die Familie wusste nicht, was ihr passiert war. Zwei Wochen warteten sie in der Türkei, ob jemand ein Lebenszeichen von Madina erhalten hatte. Dann machten die Schlepper Druck. Man müsste weiterreisen, hätte keine Zeit, um auf das Mädchen zu warten. Und so wurden die Ghazizadas in ein überfülltes Schlauchboot gedrängt und nach Griechenland geschickt. Mit der großen Flüchtlingsbewegung von 2015 gelangte die Familie schließlich nach Österreich, erhielt einen positiven Asylbescheid und lebt seitdem im niederösterreichischen Amstetten. Ohne Madina.

Ein Brief nach drei Jahren

Erste Versuche, die Tochter mithilfe des Suchdienstes des Roten Kreuzes zu finden, schlugen fehl. Nach fast drei Jahren erreichte die Familie aber ein Brief: Madina, mittlerweile 19 Jahre alt, lebt in Indonesien. Sie hat geheiratet, ist Mutter eines kleinen Sohnes.

Als Herr Ghazizada vom ersten Videotelefonat mit seiner Tochter erzählt, sucht er den Blickkontakt mit seiner Frau und wischt sich die Tränen aus den Augenwinkeln. Der zehnjährige Sohn Samir nennt es "den schönsten Tag seines Lebens", weil er seine Eltern "so glücklich gesehen" habe.

Welchen Weg Madinas Leben ab der türkischen Grenze genommen hat, darüber will die 19-Jährige nicht sprechen. Zu schrecklich seien die Erinnerungen. Ihr Vater kennt nur Eckpunkte. Die damals 17-Jährige war bei einer Familie untergekommen, die mit ihr abgeschoben worden war. Die Nachbarin hätte sie schließlich verheiratet, doch auch ihr Mann – ein Sicherheitsbeamter – wurde bald im Land zur Zielscheibe. Das Paar flüchtete über Indien und Malaysia nach Singapur.

Internationaler Suchdienst

Zueinandergefunden hat die Familie über die Onlineplattform der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung Trace the Face. Dort können Personen nach ihren Familienangehörigen suchen, die sie auf der Flucht oder in einem Konflikt verloren haben. Mehr als 4700 Fotos von Suchenden waren im Juli auf der Plattform, die seit 2013 existiert. Bereits seit dem Ersten Weltkrieg sucht das Rote Kreuz nach Vermissten. Im Moment sind es mehr als 100.000 Personen weltweit.

"Wir geben niemals einen Fall auf", sagt die Leiterin des Suchdienstes beim österreichischen Roten Kreuz, Claire Schocher-Döring, dem STANDARD. So wird noch immer nach Vermissten aus dem Zweiten Weltkrieg gesucht. Bei jüngeren Konflikten kann in rund zehn Prozent der Fälle Gewissheit erlangt werden, wo sich ein Angehöriger befindet oder ob er tot ist. Demotivierend ist das für Schocher-Döring nicht: "Für die Familien sind es immer 100 Prozent Erfolgsquote."

Familie Ghazizada steht nun täglich in Kontakt mit ihrer Tochter und träumt davon, irgendwann einmal wieder als Familie vereint zu werden. (Bianca Blei, 30.8.2018)