Protest gegen die umstrittenen Justizreformen in Polen im Juni des Jahres. Der Regierung schickt Richter in den vorzeitigen Ruhestand – politische Umfärbung, werfen ihr Kritiker vor.

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Die Europäische Union beruht auf einer Reihe fundamentaler Werte und Prinzipien. Die Europäischen Verträge beschreiben diese auch als Werte, die der EU und ihren Mitgliedstaaten gemeinsam sind. Wie es der Europäische Gerichtshof im Jahr 2014 in einem Urteil formulierte, basiert die rechtliche Struktur, der diese Verträge zugrunde liegen, "auf der fundamentalen Prämisse, dass jeder Mitgliedstaat mit allen anderen Mitgliedstaaten bestimmte gemeinsame Werte teilt, auf denen die EU gründet, und dass jeder Mitgliedstaat diesen Umstand auch anerkennt. […] Diese Prämisse impliziert und rechtfertigt die Existenz gegenseitigen Vertrauens darauf […], dass diese Werte anerkannt werden und dass das EU-Recht, das diese implementiert, deshalb respektiert wird."

Aus diesem Grund bedeutet das, was man als "die Abkehr vom Rechtsstaat" bezeichnen könnte, eine existenzielle Bedrohung für die EU und ihr Funktionieren, wenn nicht ihr Überleben. Mit der Abkehr vom Rechtsstaat meine ich den Vorgang, im Zuge dessen gewählte öffentliche Vertreter mit voller Absicht Regierungsentwürfe umsetzen, die darauf abzielen, die innere Gewaltenkontrolle systematisch zu schwächen, zunichtezumachen oder zu kapern – das Ganze mit dem Ziel, den liberalen demokratischen Staat zu zerschlagen und die Langzeitherrschaft der dominierenden Partei sicherzustellen.

Schwächung der "Checks and Balances"

Der Begriff der Abkehr impliziert, dass ein Land schon einmal weiter war und dann einen Rückschritt gemacht hat. Diese Schwächung der "Checks and Balances" spiegelt eine bewusste Strategie einer Regierungspartei wider, bei der das (geheime) Ziel ist, eine elektorale Autokratie zu etablieren und zu festigen, in der Wahlen vielleicht noch "frei" sind, aber nicht mehr "fair". Elektorale Autokratien sind de facto Einparteienstaaten, in denen gewählte Funktionäre der herrschenden Partei die ausschließliche Autorität für sich beanspruchen, im Namen "des Volkes" zu agieren.

Dieses Endprodukt kann man "Demokratur" nennen. Um die Forschungsarbeit meiner Kollegin Professor Kim Scheppele zu zitieren, "schweben Demokraturen, wie der Begriff impliziert, in der Mitte zwischen Demokratie und Diktatur, mit Eigenschaften von beiden. In Demokraturen gelangen ehrgeizige Anführer mit (oft starken) plebiszitären Mandaten an die Macht, aber sie sind bestrebt, hernach außerhalb des Rahmens von Gewaltentrennung und -kontrolle zu regieren, der doch das Kennzeichen des liberalen Staates ist."

Angesichts dieser extrem besorgniserregenden Entwicklung muss ich leider sagen, dass die EU-Institutionen, einschließlich nationaler Regierungen im Ratsvorsitz, es verabsäumt haben, effektive Antworten auf diese existenzielle Herausforderung zu finden. Einige Personen in Schlüsselpositionen wollen die Bedrohung nicht wahrhaben, sind nicht fähig, aus vergangenen Fehlern zu lernen, um sich ihr stellen zu können, oder – noch schlimmer – sie sind sogar daran beteiligt.

Worst Practices verbreiten sich

Wir haben beobachtet, wie zunächst Ungarn und jetzt Polen aus der Familie der konstitutionell-demokratischen Staaten herausgefallen sind. Es ist klar, dass zwischenstaatliche EU-Körperschaften, aber auch EU-Mitgliedstaaten Hemmungen haben, die nationalen Instanzen eines Mitgliedstaates zu kritisieren und entschieden zu reagieren, sogar wenn sich das Gegenüber unverschämt verhält. Oft waren die mächtigsten Akteure der EU und der Nationalstaaten damit beschäftigt, nichts zu tun oder ihre Köpfe in den Sand zu stecken in der Hoffnung, rein nationale Entwicklungen würden die Situation irgendwann von innen heraus verändern.

Hingegen führt eine zementierte Einparteienherrschaft – die die Gerichte fesselt, die Medien mundtot macht, die Opposition attackiert und die unabhängige Beamtenschaft ausblutet – dazu, dass genau jene innerstaatlichen Institutionen, die eine erfolgreiche Wiederherstellung der EU-Werte von innen heraus ermöglichen könnten, außer Kraft gesetzt sind. Das Problem kann nicht mehr friedlich aus den eigenen Strukturen des Mitgliedstaates heraus gelöst werden. Deshalb müssen die EU und die (noch) nicht "kontaminierten" Länder handeln, bevor sich die Lage verschlimmert.

In der Tat hatten wir früher hauptsächlich im Blick, dass Best Practices sich über die Grenzen von Rechtssystemen hinweg verbreiten. Jetzt müssen wir hingegen feststellen, dass die Worst Practices von Möchtegern-Autokraten in immer mehr EU-Länder importiert werden. Das war durchaus vorherzusehen. Um eine Resolution des Europäischen Parlaments zur Lage in Ungarn aus dem Jahr 2015 zu zitieren, könnte das Versäumnis der EU, "ihre Fähigkeit und politische Entschlossenheit unter Beweis zu stellen, auf Bedrohungen und Verstöße gegen ihre eigenen Werte durch einen Mitgliedstaat zu reagieren", die Existenz ähnlicher Entwicklungen in manchen anderen Mitgliedstaaten begünstigt haben, wo wir ebenfalls besorgniserregende Anzeichen einer Aushöhlung des Rechtsstaates erleben.

Nicht tatenlos zusehen

Die postkommunistischen europäischen Staaten waren darauf erpicht, der EU beizutreten, als der sowjetische Einfluss auf ihre Regierungen verschwand. Sie waren darauf erpicht, weil sie ihren Lebensstandard verbessern und Mitglieder eines der exklusivsten Klubs der Welt werden wollten. Aber sie waren auch deshalb darauf erpicht, der EU beizutreten, weil die EU für sie eine Art Versicherung gegen ein Wiedererstarken des Autoritarismus symbolisierte.

Wenn die EU tatenlos zusieht, wie ungebremste Mehrheitsansprüche nationale Verfassungen unterminieren und die Grundwerte der EU in diesen Mitgliedstaaten bedrohen, dann werden sich viele fragen, ob die EU tatsächlich eine Wertegemeinschaft ist; und wenn sie es nicht ist, könnten sich manche zu Recht fragen, ob es sich noch lohnt, für die EU zu kämpfen. Sogar die Pragmatiker unter uns müssen endlich aufwachen und sich klarmachen, dass wir einer existenziellen Bedrohung gegenüberstehen. Um den niederländischen Premier zu zitieren: "Wenn man den Rechtsstaat untergräbt, untergräbt man den Binnenmarkt. Wenn man den Binnenmarkt untergräbt, untergräbt man die Union."

Verschwenden wir keine Zeit mehr mit Diskussionen über die Bedeutung und den Anwendungsbereich von Rechtsstaatlichkeit oder den potenziellen Bedarf nach mehr EU-Instrumenten oder -Mechanismen. Suchen wir keine Ausreden mehr, um unsere institutionelle oder individuelle Untätigkeit angesichts einer reellen Gefahr zu rechtfertigen. Die Zeit ist gekommen, für den Rechtsstaat einzustehen und sich angehenden Autokraten in den Weg zu stellen. (Laurent Pech, Übersetzung: Alma Gehleicht, 30.8.2018)