Autor Michael Köhlmeier entführt einen egozentrischen Psychoanalytiker in das Land seiner Väter: zurück nach Jerusalem, vor die Klagemauer.


Foto: Heribert Corn

Ob familiäre oder partnerschaftliche Bindungen, in diesem Roman voller Lebensfluchten werden gnadenlos Strukturen aufgelöst, bis hin zur seelischen Zersetzung: "Komm, dein Bruder wird verrückt!", lautet die Mail, die Hanna ihrer Schwägerin in Dublin schreibt. Zwei Tage später kommt Jetti in Wien an, aber da ist Robert, ihr Bruder, bereits verschwunden: Robert Lenobel (55) Psychoanalytiker.

Was mit der Spannung eines Krimis beginnt, ist eine variantenreich in sich verwobene Geschichte, die die Gegenwart aus der Vergangenheit erzählt und darauf neugierig macht, wie es weitergeht – oder wie alles angefangen hat. Schließlich liegt über allem das Trauma der Familie. Das Zeitporträt, das entworfen wird, lässt sich am besten mit dem Satz beschreiben: "Das Zeitalter der Seele neigt sich seinem Ende zu." Sagt jedenfalls der Seelenarzt. Er ist nicht der Einzige im Roman, der Hilfe braucht.

Lenobel ist vermutlich ein Borderliner, zumindest Egozentriker, einer, der "nur so tat, als könnte und wollte er mittun beim Menschsein". Und jetzt? Er habe sich eine "Auszeit" genommen, meint seine Frau – und gleichzeitig: Sie glaube nicht, dass er wiederkommt. Tage später erhält die Schwester ein Lebenszeichen: "Ich bin in Israel, dem Land der Väter. Aber an die Väter denke ich nicht." Da sitzt Robert im Café Ta'amon in Jerusalem, aber das dürfe niemand wissen: "Ich schreibe an meinem Buch, ich komme gut voran."

"Ikone der Verzweiflung"

Robert und Jetti sind Geschwister aus dem "jüdischen Nachgeborenenklischee": Die Großeltern mütterlicherseits wurden im KZ ermordet, die Großeltern väterlicherseits haben sich 1967 in Israel das Leben genommen. Auch der Vater bleibt unbekannt, er hat die Familie früh verlassen und ist buchstäblich verschwunden, die Mutter, eine "Ikone der Verzweiflung", endete in der Psychiatrie, da waren die Geschwister Lenobel noch nicht einmal erwachsen.

So viel Familienkatastrophe verstört das ganze spätere Leben. Was es mit Roberts Verschwinden auf sich hat, darüber kann am ehesten sein Freund, der Schriftsteller Sebastian Lukasser, Auskunft geben – er ist Köhlmeier-Lesern, nicht zuletzt als Erzähler in Abendland, eine bekannte Figur. Auch hier ist er, zumindest miterzählend, ein unverzichtbarer Teil der Handlung, der Licht ins Dunkel der Geschichte bringt. Denn etwas muss ja passiert sein, wenn ein Psychoanalytiker, der nicht an die Existenz der Seele glaubt, plötzlich von "seiner Seele" spricht und sich herausgefordert sieht, ein "neues Leben" zu beginnen.

Vermutlich wäre das Buch, das er schreiben will, ein Akt der Erklärung und vielleicht doch eine späte Vatersuche. Dass er am Ende vor der Klagemauer steht, erscheint irrational und doch logisch, schließlich gilt die Seele als "eine Erfindung des Judentums". Dennoch wird hier keine Geschichte der Herkunft aufgerollt. Der Schatten des Holocaust berührt den Roman nicht – der blendet nicht weiter als in die 1960er zurück, mit Fokus auf Wien.

"Es war einmal ein König ..."

Ein dunkles Familienmärchen? Mit der Ebene des Märchens wird der Leser mit jedem der insgesamt 13 Kapitel konfrontiert, denn jedem ist ein kleines Märchen vorangestellt: "Es war einmal ein König", "Es war einmal gewesen ein Bub" oder "Als ich jung war"... Eine Struktur, die der Autor zu untermauert versucht: Zum einen will der Schriftsteller Lukasser "eine Sammlung mit Märchen" schreiben, zum anderen rekurriert Roberts Beruf darauf: "Jeder Psychoanalytiker macht sich Gedanken über Märchen. Das ist Standard." Romanstandard ist es freilich nicht, es unterbricht vielmehr den Erzählablauf, ohne dass diese Exkurse den Roman zwingend gliedern.

Man möchte glauben, er käme wohl besser ohne diese "Shorttales" aus. Schließlich ist es ja doch eine realistische Familiengeschichte, in der alle auf dem Sprung fort aus der Familie sind. Von Robert heißt es, dass ihm als Heranwachsendem "jedes Gefühl für sein Ich verlorengegangen" sei. Damals, als seine Mutter erstmals in die Psychiatrie kam, habe die "Krise" begonnen. Und als wäre sie familienimmanent, sind die Vertreter aller Generationen Protagonisten eines unsteten Lebens.

Bruder und Schwester Lenobel ist ein Roman voller wechselnder Liebesgeschichten und Lebensentwürfe, die alle nicht wirklich gelingen, so wenig wie hier "Familie" funktioniert. Vielleicht sollte man den Roman als eine Art seelisches Roadmovie lesen: Denn hier sind alle unterwegs und laufen vor sich selbst davon. (Gerhard Zeillinger, 31.8.2018)