Mario Schlembach: "Ich bin erstaunt, mit welcher Leichtigkeit mich dieser Ort empfängt. Fast euphorisch vergesse ich alles, was war, und möchte auch den letzten Dämon in mir zu Grabe tragen."

Foto: Andrea Imler

Und hier das Wichtigste", sagt Dr. Peter Fabjan mit einem Strick in der Hand. Er mustert mich von oben bis unten, macht eine kurze Pause und fügt hinzu: "Natürlich nicht zum Aufhängen." Mit einem verschmitzten Lächeln, das sich bereits sein Halbbruder Thomas Bernhard bei Interviews nicht verkneifen konnte, legt er den Strick zurück in den Schrank der Dachgeschoßwohnung, in der ich die nächsten Wochen verbringen werde. "Wenn es brennt, seilen Sie sich ab! Als ehemaliger Mediziner muss man alle Möglichkeiten bedenken, nicht?"

Ein langer Überlegungsprozess steckte hinter der Annahme dieses Stipendiums. Vor gut zehn Jahren hatte ich mich schon einmal auf den Bernhard-Kosmos eingelassen, und es endete, wie es enden musste.

Die Thomas-Bernhard-Straße in Ottnang am Hausruck beginnt, wo der Stelzhamerweg aufhört, und führt weiter zur "Promillestraße". Das Haus liegt verlassen am Rand eines Waldstückes. Ich sei der erste Schriftsteller, der sich diesem Ort aussetze, sagt Dr. Fabjan, der die ursprünglichen Wohnräume zum Museum machte und in den ehemaligen Heuboden Zimmer bauen ließ. "Sie wohnen über dem Kopf vom Bruder!"

Die erste Nacht schlafe ich kaum. Gelsen, Hornissen, Spinnen: Ungeziefer befallen meinen erhitzten Körper. Die Inspiration für das Stück Jagdgesellschaft muss man nicht lange suchen. Und auch die Auslöschung lässt sich mit Ausblick auf Wolfsegg erahnen.

Wegen der Schimpferei

Ab dem Vormittag sitze ich im Garten und schreibe. Mit dem Schatten wandere ich ums Haus. Es ist idyllisch hier. Nichts von der Schwere und Kälte, die ich erwartet habe. "Man merkt es immer gleich, das Oberösterreichische", ließ Bernhard einen Professor in Heldenplatz sagen. Ich selbst kenne nur das Niederösterreichische, wo es mittlerweile mehr Windmühlen als Verrückte gibt.

Birnen fallen vom fünf Meter hohen Baum, unter dem ich sitze. Zwei sind bereits wenige Zentimeter vor mir aufgeschlagen. Noch keine hat mich getroffen; auch keine Idee.

Ich höre die Kühe, den Wind in den Bäumen und dazwischen ständige Schussgeräusche. Entweder der Wald gleicht einem Schlachtfeld, oder die Jäger benutzen das falsche Zielwasser, wie ich denke, bis mich ein Spaziergänger aufklärt: Ein Schießverein befinde sich unweit von hier, und die vollbewaffneten Bierbauch-Schnauzbart-Träger seien im Meisterschaftsmodus.

Am späten Nachmittag erkunde ich die Umgebung. Ich spaziere durch den Wald und komme zum Haus der Nachbarin. Sie lädt mich auf ein Bier ein: "Mein Schwiegervater hat mir ein Buch von dem gegeben, weil es mich natürlich interessiert hat. Aber schon bei den ersten Sätzen: Nein!" Verträumt blickt sie in ihren Garten, den sie mit großer Hingabe und Liebe pflegt. "Die Leute im Dorf sind natürlich wegen der Schimpferei nicht gut auf ihn zu sprechen. Wenn man nicht von da ist, wie mein Mann und ich auch, dann schauen die Leute schon zweimal hin. Aber wenn sie sehen, dass man immer fleißig arbeitet ..."

Die unermüdlichen Klageschreie eines Esels klingen aus der Weite zu uns. "Keine Angst, das ist nur die Evy, die ist so ein richtiges Suderweib. Die Nachbarin hat sie zu ihrem Sechziger mit den Worten bekommen: ‚Weil einen alten Esel hast ja schon.‘" Während mich ihr junger Wolfsspitz Balu, der mehr Fell- als Körper gewicht hat, zu besteigen versucht, erzählt sie weiter: "Manchmal kommen Busladungen an Rollatorgroupies. Viele verwechseln unser Haus mit dem Museum. Letztens habe ich mir so einen schönen Keramikfrosch gekauft, und dann war der weg. Jetzt steht er wahrscheinlich bei irgendwem auf einem Altar, und der betet den Bernhardfrosch an." Sie lacht. "Vielleicht wird’s ja ein Dichterprinz!"

Ich bin erstaunt, mit welcher Leichtigkeit mich dieser Ort empfängt. Fast euphorisch vergesse ich alles, was war, und möchte auch den letzten Dämon in mir zu Grabe tragen. Anfang zwanzig bin ich erstmals in die Bernhard-Welt eingetaucht. Ich habe alles gelesen, was ich in die Finger bekommen konnte, habe eine Stelle bei den Salzkammergut-Festwochen angenommen und bin im Haus von Karl Ignaz Hennetmair untergebracht worden, der dem Autor seine drei Liegenschaften (den Vierkanthof in Ohlsdorf, "Krucka" auf dem Grasberg, das "Haunspäunhaus" in Ottnang) vermittelt hatte. Zehn Jahre lang waren sie engste Vertraute ge wesen, bis es zum Bruch gekommen war.

Naiv, dumm und glücklich

Hennetmair öffnete die Tür, und ich kam in den folgenden Tagen nicht zu Wort. Sein Monolog handelte von seinen Erlebnissen im Zweiten Weltkrieg, von seiner Zeit mit dem Autor, aber vor allem klagte er über seine Behandlung durch die Bernhard-Gesellschaft. Er fühlte sich "boykottiert, marginalisiert und diffamiert", wie er ständig wiederholte. Naiv, dumm und glücklich saß ich als einziger Zuschauer in der ersten Reihe eines Stückes, das am zehnten Tag seinen Höhepunkt erreichte.

Ich kam aus Gmunden zurück, zog mich für die Nacht um, ging in die Küche und begrüßte den alten Mann wie immer, doch sein Blick war jetzt ein anderer. Sein Körper bebte vor Wut, und auf mich schlugen Worte des Hasses ein. Stundenlang beschimpfte er mich. Statt mich zu wehren, auch nur irgendetwas zu sagen, stand ich wie gelähmt da und ließ alles über mich ergehen.

Er beschuldigte mich, ein Spion der "Gesellschaft" zu sein, der sein Vertrauen gewinnen und heimlich Kopien aus seinem Privatarchiv anfertigen sollte. "Sie niederträchtige, Sie abscheuliche Person", rief er aus, "alles, was Sie sind, alles, was Sie machen, ist nichts und kann nie etwas sein. Im Krieg hätten wir Sie für so einen Verrat an die Wand gestellt und ..." Hennetmair sperrte mich aus und behielt meine Sachen ein; dar unter die Notizen für meine Diplomarbeit und meine ersten literarischen Versuche.

Ein Grabmal aus schwarzem Gusseisen ziert seine Ruhestätte. Vor wenigen Wochen ist Hennetmair in einem Heim gestorben. Bis zu seinem Tod blieb er seiner unerbittlichen Linie treu. Sein Name wurde mit einem weißen Stift in das kleine Fenster geschrieben. "Verschwinden Sie", höre ich seine kräftige Stimme noch heute. "Ja", antworte ich wie damals.

Tage, Wochen bin ich bereits hier. Ich weiß es nicht. Die Zeit zerrinnt an diesem Ort. Die Umgebung löst sich auf und wird zur reinen Kulisse des weißen Blattes. Stunden, in denen ich gar nicht anwesend scheine und nur das Ticken meiner Schreibmaschine zu hören ist. Manchmal schrecke ich hoch. Menschen stehen plötzlich hinter mir, die ums Haus laufen und denken, einem Geist oder einer lebensechten Requisite zu begegnen. Auch Museen ändern sich in diesen Tagen.

Die Last des Nachlasses

"Weißt du, wie viele Menschen an solch einer Last des Testaments, an der Last des Nachlasses, der eigentlich Nachlast heißen sollte, zugrunde gegangen sind?", habe ich in meinem ersten Roman Dichtersgattin die Protagonistin Hedwig sagen lassen. Dr. Fabjan wurde vor kurzem das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst I. Klasse verliehen, "für dessen Verdienste um den literarischen Nachlass seines Bruders". Die Last des Erbes, und das wusste Bernhard meisterlich in seinen Texten zu behandeln, ist eine Bürde, die kaum zu tragen ist, ohne Opfer zu bringen. Jedes Werk wird irgendwann von den Generationen danach überwältigt. Man kann nur die Räume öffnen, es durchziehen lassen und hoffen, dass sich kein Schimmel ansetzt. Häuser wie Texte müssen belebt werden, um sie aus ihrer Totenstarre zu befreien.

Ich wollte an diesem Ort über Bernhard forschen, endlich meine Studie über den Autor abschließen, aber nichts liegt mir jetzt ferner. Der schreibende Mensch ist narzisstisch genug, um in allem sich selbst zu ergründen.

Die erste Deutschschularbeit, die ich fehlerfrei abgab, war ein in nerer Monolog, den ich statt einer klassischen Erörterung schrieb: "Nicht genügend – Themenverfehlung!", hieß es im handschriftlichen Vermerk. Vielleicht hat nichts hier mit Bernhard zu tun, und vielleicht ist gerade dieses Nichts alles. Verlasse Ottnang mit einem Lächeln. (Mario Schlembach, Album, 1.9.2018)