Wenn Nerven blankliegen: Bei MS greift das eigene Immunsystem den Körper an und verursacht Entzündungen an Nervenleitungen, Medikamente können gegensteuern.

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Multiple Sklerose (MS) ist eine Autoimmunerkrankung. Das Immunsystem greift den eigenen Körper an, im Falle der MS sind das Strukturen in Gehirn und Rückenmark. Die Folgen der Erkrankung sind vielfältig und reichen von Sehstörungen über Müdigkeit bis hin zu Lähmungen und Empfindungsstörungen – etwa in Armen, Beinen oder Händen. Welche Symptome genau die Betroffenen entwickeln und wie stark sie sind, lässt sich nicht prognostizieren. Denn "die Erkrankung verläuft zumindest anfänglich meist in Schüben", sagt Assunta Dal-Bianco, Neurologin an der Med-Uni Wien. Anzahl und Ausmaß der Schübe sind daher individuell unterschiedlich.

Auch Umweltfaktoren beeinflussen möglicherweise den Verlauf der Krankheit. Zum Beispiel Licht. Studien haben gezeigt, dass die Krankheitslast im Frühling und Sommer stärker ist als im Herbst oder Winter. "Warum das so ist, liegt möglicherweise auch am Botenstoff Melatonin", sagt Lutz Harms, Neurologe an der Universitätsmedizin Charité in Berlin. Das Hormon wird unter anderem in der Zirbeldrüse, einem Teil des Zwischenhirns hergestellt und steuert unsere innere Uhr mit, also den Wach- und Schlafrhythmus.

Wie viel Melatonin das Zwischenhirn produziert, hängt vor allem von den Lichtverhältnissen ab: Ist es hell und scheint draußen die Sonne, nimmt die Melatoninproduktion ab. Weniger Licht erhöht die Produktion. Im Sommer haben die meisten Menschen daher einen niedrigeren Melatoninspiegel als im Winter.

Antioxidative Wirkung

Was das nun mit der MS-Erkrankung zu tun hat? "Bei der MS werden bestimmte T-Zellen fehlgeleitet", erklärt Neurologe Harms. Das heißt, statt das Immunsystem bei seiner Arbeit zu unterstützen, identifizieren sie das eigene Körpergewebe als potenziell krankmachenden Fremdkörper und greifen es an. "Ein hoher Melatoninspiegel scheint die Aktivität dieser schädlichen T-Zellen zu reduzieren", so Harms.

Diese These wird durch eine Studie des Raúl-Carrea-Instituts für Neurologische Forschung in Buenos Aires aus dem Jahr 2015 gestützt. Um den Zusammenhang zwischen T-Zellen und Melatonin genauer zu untersuchen, verabreichten die Forscher Mäusen mit einer künstlich erzeugten Form von MS, der sogenannten experimentellen autoimmunen Enzephalomyelitis (EAE) das Hormon. Das Ergebnis: Das Melatonin blockierte bestimmte T-Zellen, die an der Auslösung der MS-Schübe beteiligt sind. Gleichzeitig stieg die Anzahl der regulatorischen T-Zellen und die MS-Symptome gingen zurück. Ähnliches konnten die Forscher im Versuch in der Petrischale mit menschlichen Zellen beobachten.

Solche Maus- und In-vitro-Experimente lassen sich allerdings nicht auf den Menschen übertragen. Eine Untersuchung von Wissenschaftern der Schlesischen Medizinischen Universität in Polen, die 2014 im Fachblatt Journal of Physiology and Pharmacology erschien, fand jedoch heraus, dass Melatonin auch eine antioxidative Wirkung hat.

Langzeitstudien notwendig

Außerdem konnten die Forscher zeigen, dass Menschen mit MS, die 90 Tage lang täglich fünf Milligramm des Hormons einnahmen, sich während der Behandlung allgemein besser fühlten. Allerdings traf dies nur auf die Gruppe zu, die wegen ihrer Erkrankung auch mit dem Medikament Mitoxantron behandelt wurde. Bei den anderen Patienten zeigte sich in puncto Lebensqualität keine nennenswerte Verbesserung. Der Effekt des Melatonins auf die T-Zellen wurde nicht untersucht.

Die Forscher aus Argentinien warnen deshalb davor, aus den Ergebnissen ihrer Studie Therapieempfehlungen abzuleiten. Der Ansicht ist auch Neurologin Dal-Bianco. "Zwar sprechen Studien für eine entzündungshemmende, antioxidative Wirkung, der genaue Wirkmechanismus des Hormons ist jedoch noch nicht geklärt." Außerdem gebe es bislang keine Langzeitstudien. "Welchen Effekt eine dauerhafte Hormoneinnahme auf MS-Patienten hat, wissen wir nicht", so Dal-Bianco.

Gute Verträglichkeit

"Um den immunologischen Effekt des Melatonins zu überprüfen, braucht es repräsentative Studien mit echten Patienten", bestätigt Neurologe Harms. Für MS-Patienten, die unter Schlafstörungen leiden, sei die Einnahme des Hormons aber durchaus eine Option – auch wegen der relativ guten Verträglichkeit. "Um auf Nummer sicher zu gehen, sollte die Einnahme aber mit dem Arzt besprochen werden", betont Harms.

Was die Forschung davon abhält die Wirkung von Melatonin in Studien zu testen, ist seiner Ansicht nach Geld. "Patientenstudien sind teuer", so Harms – und da das Hormon bereits heute in vielen Ländern freiverkäuflich im Handel erhältlich ist und kein Patentschutz vorliegt, sei die Erforschung wenig lukrativ. (Stella Marie Hombach, 3.9.2018)