Am schönsten fußelt es sich zu Tangoklängen, wenn die barocke Wiener Karlskirche am Abend unter Scheinwerfern zu leuchten beginnt.

Foto: Florian Albert

Es war ein Bangen bis zur letzten Minute. Letztlich hat sich der Himmel als gnädig erwiesen, hat die Wolken verdrängt, die Tangueros und Tangueras wie jeden Sonntag im Sommer auf den Karlsplatz gelockt. "Dürfen wir eh zuschauen? Tanzt ihr einfach so, oder ist das eine Show?" Das Ehepaar aus Deutschland ist zu Besuch in Wien, hat noch nie Tango gesehen, außer den im Fernsehen natürlich, "Der Duft der Frauen", 1992, als Al Pacino und Gabrielle Anwar im Ballsaal des New Yorker Pierre Hotel zu einem der berühmtesten Tangos der Filmgeschichte ansetzten.

"In Wirklichkeit, wenn man direkt davorsteht, sieht das alles etwas anders aus", sagen die beiden, folgen den sich mal sinnlich im Kreise drehenden, mal zackig in die Luft geworfenen Beinen der Dame. Ein Ocho rückwärts, ein Ocho vorwärts, ein tiefer Planeo, eine nach vorn geneigte Volcada, und dann, auf die Sekunde mit dem Schlussakkord zusammenfallend, die Füße und Beine gordisch ineinander verknotend, eine dramatische Enganchada. "Mensch, was für ein schöner Tanz!" Irgendwer hat gerade geblitzt.

Zur Melange eine Milonga

"Ich liebe die Stimmung auf dem Karlsplatz", sagt Aiala Gonzáles. "Draußen unter freiem Himmel ist der Tango einfach schöner." Seit vielen Jahren veranstaltet die gebürtige Baskin, die ihren Eltern schon als kleines Kind beim Tangieren zuschaute, sogenannte Milongas, an denen mal klassische, mal moderne Tangomusik aufgelegt und stundenlang getanzt wird. Seit sechs Jahren macht sie das auch hier draußen vor der Karlskirche. Mit einem Notebook, einem großen Lautsprecher und einem professionellen Tanzboden, der Woche für Woche unter einem der großen Bäume ausgerollt und mit Gafferband zu einem Parkett auf Zeit zusammengeklebt wird.

Es ist kurz nach 19 Uhr. Die Milonga hat eben begonnen. Die abendliche Sonne und die permanente Bewegung der Bäuche, der Brüste, der Beine treiben den tanzenden Männern und Frauen die Schweißperlen auf die Stirn. Doch am schönsten, sagt Aiala, ist es später, wenn bei Einbruch der Dunkelheit die Scheinwerfer eingeschaltet werden und die barocke Kirche mit ihren Säulen zu leuchten beginnt. Über der Kuppel steht der Vollmond. "Siehst du, was ich meine? Das ist ein Zauber, den gibt es nirgendwo sonst."

Tangometropolen

Tatsächlich zählt Wien, wo seit Beginn der Neunzigerjahre immer mehr Menschen den Tango entdecken, zu den tangofreundlichsten Städten Europas. Gewiss, Wien ist kein Vergleich zur Wiege des Tangos, zum Flussdelta des Río de la Plata mit seinen Großstädten Buenos Aires und Montevideo, und auch nicht zu Tangometropolen wie etwa Paris, Berlin, Istanbul. Doch kaum wo wird im Sommer so viel unter freiem Himmel tangiert wie in Wien. Pro Woche finden hier bis zu neun Open-Air-Milongas statt: auf dem Karlsplatz, im Volksgarten, im Burggarten neben dem Palmenhaus, auf dem Brunnenmarkt in Ottakring, auf der Donauinsel, an der Alten Donau, ja sogar auf Holzstegen mit Blick auf das Wasser.

"Es ist für jeden Geschmack etwas dabei", sagt Susi Maurer. "Für die Traditionalisten genauso wie für die Anhänger des Tango nuevo, des Elektrotango oder des Queer-Tango, bei dem die strengen Rollen zwischen Mann und Frau aufgehoben werden, bei dem einfach nur der Spaß am Tanz im Vordergrund steht." Gemeinsam mit ihrem Tangopartner Martin Haslehner lädt die freiberufliche Werbegestalterin am Samstagabend zur Crossover-Milonga in den Burggarten, wo auf polierten Steinplatten die Stilettos im Rhythmus der Musik erotische Kreise ziehen. Oder auch in einer der vielen Ritzen und Risse stecken bleiben.

Strenge Etikette

"Auf einer klassischen Milonga ist die Etikette extrem wichtig, und der Tango ist oft humorbefreit und leidenschaftslos", sagt Susi. Alles ist streng geregelt: Die Aufforderung zum Tanz passiert nicht über das gesprochene Wort, sondern über schweigsamen Blick (Mirada), der im schlimmsten Fall ignoriert und in der bestmöglichen Variante mit einem Nicken oder Neigen des Kopfes (Cabeceo) erwidert wird. Dann hat der Mann die Frau vom Platz abzuholen und ihr die Hand zu reichen. Üblicherweise tanzt man eine Einheit von drei bis vier Tänzen (Tanda) miteinander, bis diese von einer kurzen Musikeinspielung (Cortina) wieder unterbrochen wird. Oh ja, auch Argentinien hat seinen Elmayer.

"Diese Spielregeln", sagt Susi, "sind schon sinnvoll und auch ganz charmant, aber manchmal stolziert der Mann wie ein chauvinistischer Gockel durch die Gegend und sondiert aus dem Angebot der Frauen, die wie auf einer Hühnerleiter aufgereiht warten, aufgefordert zu werden. Dann fühlt man sich wie in einer Karikatur. Es ist zum Schreien." Immer wieder beobachtet man, wie die eine oder andere Frau den ganzen Abend herumsitzt und am Ende der Milonga wieder die Straßenschuhe anzieht, ohne eine einzige Tanda getanzt zu haben.

"Na, wie wär's mit uns?"

"Die weibliche Währung des Tangos ist eben nicht nur das Können, sondern auch ein sexualisiertes Styling mit möglichst hohen Stöckelschuhen und möglichst niedrigem Lebensalter", meint die Wiener Soziologin Beate Littig, die am Institut für Höhere Studien (IHS) unterrichtet und seit 17 Jahren selbst leidenschaftliche Tanguera ist. "Zum Glück befindet sich die Szene gerade in einem Umbruch. Der Tango wird offener und legerer." Und die Welle der Liberalisierung und der Diversifizierung geht nicht von Buenos Aires aus, sondern von den vielen Tango-Festivals und den immer häufiger stattfindenden Open-Air-Milongas in Europa. Auch von jenen in Wien.

Es ist kurz vor 22 Uhr. Die letzte Tanda hat begonnen. "La cumparsita" von Juan D'Arienzo, eine Aufnahme aus dem Jahr 1963. Die Polizei dreht wieder einmal ihre Kontrollrunde über den Karlsplatz. Man weiß ja nie, wozu die Tangueros und Tangueras in dieser Stadt imstande sind. Unter freiem Himmel zu vielem. Der schweigsame Cabeceo ist einem frechen "Na, wie wär's mit uns?" gewichen, Frauen führen Männer, Frauen tragen Sneakers, Männer haben golden glitzernde Stilettos, Schuhgröße 43, um die Füße geschnallt. Ein letzter Ocho, ein letzter Gancho, und aus. Aber morgen sieht man einander ja wieder, Straßenbahnerbad, Alte Donau. (Wojciech Czaja, 1.9.2018)