Sophie Hunger versenkt sich auf ihrem Album "Molecules" in die Schaltkreise ...

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... Anna Calvi denkt auf "Hunter" über Sexualität nach. Das beschert dem Werk einige Leerläufe.

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Das zweite Lied gibt den Fans das, wovon sie im ersten entwöhnt wurden: Da ertönt die Akustikgitarre. Seufz, endlich, das Sopherl. Sliver Lane ist eine Ballade. Schattig, ein wenig verweht, verletzlich und verletzt, Sophie-Hunger-Style, aber doch anders. Denn der später im Lied einsetzende Rhythmus kommt nicht vom Beserlschlagzeug, er ist elektronisch. Die Elektronik prägt ihr neues Album; Molecules heißt es, ist das fünfte der Schweizerin und toll.

Hunger ist 35 Jahre alt und lebt in Berlin. Das schlägt sich nieder. Berlin ist Techno, ist elektronische Musik, Clubland. Das hallt ebenso wider wie eine in die Brüche gegangene Beziehung. All dem Wehklagen eines gebrochenen Herzens zum Trotz versucht sich die Musikerin in Nüchternheit, machte, wenn man ein Klischee bedienen möchte, die Rechnung und geht ihrer Wege. Diese führten sie nach Los Angeles, dort belegte sie einen Kurs.

Irgendwas mit Elektronik und Aufnahmetechnik. Das klingt nach Amtsweg und Reißbrett, so gar nicht nach dem Geniegedanken der Kunst und danach, dass sich jemand in ihrer Situation die ärgsten Verzweiflungslieder aus dem blutenden Herz schneidet – ohne Narkose, versteht sich. Stattdessen singt Hunger davon, eine Bar aufzumachen – was man als Berliner zur Assimilation halt so tut.

Sophie Hunger – Tricks
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Eine typische Schmerzensdame aus der Schule der Pulsadernöffner und Exorzistenpatienten ist Hunger nicht. Die Diplomatentochter aus Bern gibt sich wie zuletzt PJ Harvey als eher nüchterne Chronistin. Das angejazzte Folk-Kostüm, die Westerngitarre, die man von ihren früheren Alben kennt, das Französische und Schwyzerdütsche – all das hat sie auf dem neuen Album nach hinten geräumt oder ausgesperrt.

Trockenes Narrativ

Auf Molecules spielt sie elektronischen Folk und Pop, der in den frühen 1980ern wurzelt. Bei Bands wie OMD oder Yazoo vielleicht, als diese mit klobigen Synthesizern feingliedrige und verlorene Klagelieder produzierten. Der Song Tricks könnte gut 40 Jahre alt sein, andere Titel erinnern an Anne Clark – deren trockenes Narrativ geistert ebenfalls durch Hungers Album. Wobei das bloß zur Orientierung auf der historischen Landkarte dient, denn Hunger kopiert nicht, sondern sucht neue Gefäße für alte Gefühle, dieses Mal ausschließlich auf Englisch.

Oh Lord ist das offenherzigste Geständnis des Albums. Ein Kleinod, in dem sie eine Träne aus Bits und Bytes zerdrückt, allerliebst singt und leidet. Der nächste Song heißt wie zum Hohn The Actress. Alles nur gespielt? Nein, alles echt, ebenso wie die stimmige Stimmung und die einnehmende Atmosphäre von Molecules.

Glück im Expressionismus

Während Hungers Album mit eher introspektiver Popmusik strahlt, sucht Anna Calvi im Expressionismus ihr Glück. Verschwitzt ist sie auf dem Cover von Hunter, begleitend hat sie ein "Manifest" über Sexualität verfasst. Hunter ist das dritte Studioalbum der Britin. Der Titel ist bereits ein Hinweis auf den Versuch, aus Geschlechterrollen auszubrechen. Ursprünglich und schön soll Hunter sein. Maskulin und feminin, verletzlich und stark, etwas für Jäger und Gejagte. So endet ihr Manifest. Meist wird dem Mann die Rolle des Jägers zugedacht, Calvi dreht das um, bricht Klischees mit Songs wie Don't Beat the Girl out of My Boy.

Anna Calvi – Don't Beat the Girl out of My Boy
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Das passt in die Zeit, in der #MeToo Machtmissbrauch und Übergriffe zwischen den Geschlechtern aufzeigt und anklagt. Andererseits dürfte sich Calvi einfach ein sinnliches Album erlauben, ohne gleich ein Schreiben zu verfassen, das ein paar Gemeinplätze strapaziert.

Don't Beat the Girl out of My Boy fällt gar klobig und unelegant aus. Eigenschaften, die man mehreren Songs auf Hunter nachsagen kann, wirken doch auch andere etwas grob geschnitzt. Das Schlagzeug baut Bombast, der Synthesizer säuselt – das passt alles so gar nicht zu den intimen Gitarrenspuren und dem Gesang der 37-Jährigen.

Sie gilt mit Hunter als eine der Musikerinnen der Stunde. Der deutsche Rolling Stone widmet ihr einen Mehrseiter, verliebt sich und bemüht im Rausch des Superlativismus gar Jimi-Hendrix-Vergleiche. Das wirft die Frage auf, ob Hendrix' Werk dort überhaupt bekannt ist – Calvi tut man damit nichts Gutes.

Fehlende Atmosphäre

Zwar hat Hunter seine Momente, aber die wirken oft geborgt. Ein stringenter Song wie Wish verströmt durchaus Leidenschaft – selbst wenn sie ihn wieder mit Synthie-Pausen unterbricht, was halbwegs dramatisch aufgeht. Auch der Opener As a Man gefällt, wenngleich sich Calvi die Frage gefallen lassen muss, ob sie zu oft The Kills gehört hat. Der Song Alpha fällt in dieselbe Kategorie.

Das Album wirkt unentschlossen, verendet an der Themenschwere, im Pathos und leidlich bekannten Gesten. Calvi, so wirkt es, hat sich überhoben. Ihre inflationär gestreuten "Aaahs" und "Ooohs" erzeugen keine Atmosphäre, sie klingen wie intellektuelle Leerläufe im Geschlechterwirrwarr; wie fader Sex nach Noten – zwischen wem auch immer. Da hilft keine Streitschrift nicht. Darf man in dem Fall von einem Rohrkrepierer sprechen? (Karl Fluch, 31.8.2018)