Der größte Konkurrent von Netflix sei der Schlaf. Das hat Geschäftsführer Reed Hastings tatsächlich einmal gesagt. Der Satz zeigt noch einmal auf, mit welch nüchterner Bescheidenheit der Streaming-Riese sich seine Zukunft vorstellt.

Abrupte Wendungen mit meist tödlichem Ausgang: Tim Blake Nelson als großmäuliger Revolverheld Buster Scruggs im neuen Film der Coen-Brüder.
Foto: Netflix

Aber auch Apple und Amazon dürfen träumen. Alle drei drängen gegen die Gatekeeper des großen Kinos an. Man will mit den teuren Eigenproduktionen keine TV-Filme machen, sondern eben richtige Filme, also Kino mit Anführungszeichen. Für dieses symbolische Kapital benötigt man Festivalerfolge, im besten Fall einen Triumph bei den Oscars.

Klassenunterschiede

Dass man auf dem Filmfestival Venedig vor allem Netflix hofiert und kein Problem mit Netflix-Filmen im Wettbewerb hat, dürfte sich als Erfolg erweisen. Denn mit Alfonso Cuaróns autobiografischem Erinnerungsfilm Roma und The Ballad of Buster Scruggs von Joel und Ethan Coen hat man künstlerisch überzeugende Filme im Programm, die den Vergleich mit dem Rest nicht scheuen müssen. Wie sie sich später im Gewimmel des Onlineangebots bewähren, bleibt eine andere Frage.

Cuarón, der 2001 am Lido mit Y Tu Mamá También seine internationale Karriere begonnen hat, kehrt in Roma ins Mexiko seiner Kindheit zurück. Aus der Perspektive der indigenen Hausdienerin Cleo taucht er in den Alltag einer Familie des Mittelstands ein: vier Kinder, eines davon der Regisseur selbst, die unter Frauen aufwachsen, da der Vater das Weite sucht.

Trailer zu "Roma".
Netflix

In mit größter Sorgfalt arrangierten Schwarz-Weiß-Einstellungen studiert der Regisseur das soziale Gefüge. Klassenunterschiede bleiben spürbar, was der Nähe der stillen Cleo zur Familie aber nicht unbedingt widerspricht.

Eher beiläufig fügt Cuarón seine Bilder in eine Zeit des Umbruchs ein, die innen wie außen Änderungen bringt. Cuarón entpuppt sich als Meister der subtilen Verschränkung, wenn er das Corpus-Christi-Massaker von 1971 mit einem Schicksalsschlag für Cleo in einem Take synchronisiert.

Stilistisch konträr dazu, aber ähnlich obsessiv im Detail die Coen-Brüder in ihrem Westernstück in sechs Episoden, das ursprünglich als Serie geplant war. The Ballad of Buster Scruggs heißt eigentlich nur die erste Erzählung um einen großmäuligen Revolverhelden (Tim Blake Nelson), in der die Brüder neben ihrer Liebe zur Deadpan-Komik auch jene zu Folk und Country ausleben.

Die weiteren Episoden reichen von der grimmigen Parabel um Kleinkünstler bis zur Kurzelegie um einen Treck nach Oregon. Die Wendungen sind abrupt, meist tödlich. Nur Tom Waits als bärbeißiger Goldsucher hat etwas Glück und jauchzt entsprechend großartig, als er wie durch ein Wunder einen Hinterhalt überlebt.

Surreale Neigungen

Es war nicht die erste Groteske, die man am Lido erleben konnte. Der für seine surreale Neigung bekannte Grieche Yorgos Lanthimos (The Lobster) hat mit The Favourite seinen ersten waschechten Kostümfilm gedreht; allerdings einen, der in seinem Nachdruck auf Wahnsinn, Hinterlist und Verführung am britischen Hof zumindest kein filmisches Vorbild kennt. Das Zentrum der Macht ist umkämpft. Queen Anne, die letzte Stuart im frühen 18. Jahrhundert, gleicht in der umwerfenden Darstellung von Olivia Colman einem verzogenen Kind.

Trailer zu "The Favourite".
FoxSearchlight

Von Kaninchen umgeben (jedes davon symbolisiert eines ihrer toten Kinder), liegt diese Schmerzenskönigin leidend im Bett oder muss im Rollstuhl geschoben werden. Um zu regieren, fehlt jedes Know-how. Närrisch, wer da an Trump denkt. Ihre engste Vertraute, Lady Marlborough (Rachel Weisz), genießt unumschränkte Freiheiten; so lange, bis ihr in der nicht weniger verschlagenen Abigail (Emma Stone) eine ernsthafte Konkurrentin erwächst.

Lanthimos spielt nicht auf Nummer sicher, sondern beschreibt Abhängigkeiten und Manipulationen, die bis zu sexuellen Gefälligkeitsdiensten reichen. Irrsinn und Rohheit drängen hinter den formalisierten Abläufen an die Oberfläche, sie gehören gewissermaßen zur Etikette. Die üppigen Kostüme, die exzentrischen Tänze, die schrägen Kamerawinkel, das Sounddesign – alles ist in diesem meisterhaft inszenierten Drama der Macht aus dem Lot.

Es lag an Olivier Assayas, einen nach diesem wilden Ritt wieder in die Jetztzeit zurückzuführen. Der Franzose reflektiert in seinen Filmen oft mediale Umwälzungen, so auch in Double vies, der unter Schriftstellern und Verlegern spielt. Da ist die Debatte über Leserschwund und Digitalisierung nicht weit.

Doch der Film verschiebt die Frage nach dem "Realen" in einen Beziehungsreigen, und zwar auf derart pointiert humorvolle Weise, dass man sich an Ernst Lubitsch erinnert fühlt. Besonders im Gedächtnis bleibt Vincent Macaigne als Schriftsteller Léonard, der seine Romane von der Wirklichkeit abkupfert.

Assayas will ein wenig darauf hinaus, dass Franzosen in Liebesdingen schon immer mit dem virtuellen Leben vertraut waren. Ein Running Gag betrifft Michael Hanekes Das weiße Band. Es geht um eine Blowjob-Szene, die sich bei der Vorführung des Films zuträgt. Das ist die fiktive Variante – tatsächlich war es in Star Wars. (Dominik Kamalzadeh, 31.8.2018)