Blut, Trauben & Paradeiser: Die olfaktorischen Begleiterscheinungen des Orgien Mysterien Theaters des Herrmann Nitsch können herausfordernd sein.

Foto: Wolfgang Kober

Mistelbach – Albert Einstein hatte sie vorausgesagt, nachgewiesen wurden sie aber erst vor wenigen Jahren: Gravitationswellen bringen das Universum zum Schwingen. Es ist ein auf der Kollision von Schwarzen Löchern basierendes Kräuseln in der Raumzeit, das man zurück bis zum Urknall verfolgen kann.

Ungefähr aus diesen Ecken des Weltenraumes, aus dem Nirgendwo und Immerda, kommt auch der breit aufgestellte symphonische Grundakkord, den Herman Nitsch anlässlich seines 80. Geburtstages zwei Stunden lang im guten alten Raum-Zeit-Gefüge zur Aufführung bringen lässt. Im eigenen "nitsch museum" im weinviertlerischen Mistelbach fand am Wochenende die laut Werkkatalog 155. Aktion des Künstlers statt. Erstmals in den eigenen Räumlichkeiten, erstmals seit 2005 in der eigenen Heimat. Deren katholische Kirche, krawallistische Medien und Volkes Stimme exekutierende Gerichte meinten es nicht immer gut mit dem Schöpfer des Orgien Mysterien Theaters. Kein Wunder, Kirche definiert sich gern als Monopolbetrieb, überhaupt wenn es um die Verwaltung der Schöpfung, den gleich einmal dazugehörenden Sünden und die Copyrights auf Osterratschen und liturgische Fußwaschungen oder Kreuzigungen geht. Oh weh, auch bei Nitsch wird heute noch viel gekreuzigt! Irgendwann hört man in Mistelbach ab Nummer zehn zu zählen auf.

Keine Landeshauptfrau

Obwohl der reservierte Sitz für die niederösterreichische Landeshauptfrau an diesem Abend leer bleiben wird, zählt Nitsch damit allerdings längst zum Establishment. Nach Jahrzehnten des zähen Ringens um Anerkennung ist das nur verdient. Alle Protagonisten, heute kommen im Rahmen des Happenings "Sinfonie für großes Orchester, Blaskapelle Chor + Aktion" 40 Akteure in weiß und/oder nackt zum Einsatz, scheinen trotzdem ein wenig müde und zumindest symbolisch in die Jahre gekommen zu sein. Schlechtes Wetter macht manchmal schlechte Laune, vor allem dann, wenn die Aktion ursprünglich an der frischen Luft auf dem ganzen Areal des Museums geplant war. Allerdings weint der Himmel seit Stunden zum Gotterbarmen.

165 Musiker und Sänger sorgen für stundenlanges, alle Sinne ansprechendes Dröhnen.
Foto: Wolfgang Kober

So ist man als Sonderzahl angereister Besucher (auch wir sind alle älter und ein wenig etablierter geworden) in der großen Ausstellungshalle nicht nur auf engem Raum bei knapper Luft mit den von Nitsch bekannten liturgischen Abläufen konfrontiert. Deren olfaktorische Begleiterscheinungen ("Blut, Trauben und Paradeiser") können speziell in geschlossenen Räumen bekanntlich durchaus fordernd sein.

Wunderbares Dröhnen

Insgesamt 165 Musiker und Sänger (Klangvereinigung Wien, Stadtkapelle Mistelbach sowie zwei Chöre aus Mistelbach und dem benachbarten Asparn) sorgen unter der Leitung des mit eigenwilligen Handbewegungen gegen seine Untergebenen vorrückenden Dirigenten Andrea Cusumano auch für ein stundenlanges, intensives und nichts weniger als wunderbares, körperlich erfahrbares und also alle Sinne ansprechendes Dröhnen. Zwischendurch mag kurz einmal ein für unser Land typischer, halb fröhlicher, halb lebensmüder, auf jeden Fall gut mit Bier und Wein sedierter Blasmusikmarsch erklingen. Mit nur wenigen Variationen steht allerdings der Drang des Tonsetzers Hermann Nitsch im Vordergrund, tatsächlich den Kosmos mit einem einzigen Akkord im dionysischen Sinn zum Schwingen zu bringen. Dieser zwischen Morgenrot und Abenddämmerung, Geburt und Tod, Tod und Auferstehung, Richtig und Falsch, Soll und Haben, Schuld und Sühne und ähnlichen für Religionen wichtigen Begriffspaaren keinen Unterschied machende eine große Klang braucht solche Kleinigkeiten nicht. Er war immer da und wird immer sein.

Man kann das christliche Kreuz der Erlösung so wie etwa in der orthodoxen Kirche Armeniens auch als Baum des Lebens lesen. Kreuzigungsszenen wird man dort aber nicht finden.
Foto: Wolfgang Kober

Hermann Nitsch feiert das große Fest des Lebens, der Schöpfung an sich. Das erfährt man bei dieser Sinfonie auch körperlich, wenn man zum Beispiel im Saal umhergeht und neben den Tubaspielern zum Stehen kommt. Wir selbst spielen in diesem Spiel des Lebens nur eine kleine Rolle. Andere waren vor uns da, andere werden nach uns sein. Man kann das christliche Kreuz der Erlösung so wie etwa in der orthodoxen Kirche Armeniens auch als Baum des Lebens lesen. Kreuzigungsszenen wird man dort in den Kirchen nicht finden.

Am Ende läuten im Hof des Mistelbacher Museums die Glocken. Es gibt eine Jause mit Blutwurst und Speck. Und es gibt Wein. Lasst uns das Leben feiern, solange wir hier sind. (Christian Schachinger, 2.9.2018)