Bildungsminister Heinz Faßmann ist überzeugt: "Es hat keinen Sinn, in der Schule künstlich einen digitalfreien Raum zu schaffen." Wer allerdings glaube, 'Kauft Hardware, und die Welt wird eine bessere werden', irre auch mit Sicherheit.

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Im Regierungsprogramm von ÖVP und FPÖ kommt das Wort Digitalisierung gleich 92-mal vor, mehr als doppelt so oft wie die das Tagesgeschäft dominierende Migration mit 42 Nennungen. Der als vierte industrielle Revolution bezeichnete Umbruch war auch eines der Themen, die eine von Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) angeführte Delegation unlängst nach Singapur und Hongkong führten. Mit dabei Heinz Faßmann. Der für Bildung, Wissenschaft und Forschung zuständige Minister erklärt, warum ein Tablet für jedes Schulkind noch keine digitale Bildung ausmacht.

STANDARD: Für rund 100.000 Kinder beginnt in diesem Herbst die Schule. Welche Erinnerung haben Sie an Ihren eigenen Schulbeginn?

Faßmann: Mein Schulbeginn liegt leider schon 56 Jahre zurück (lacht), aber ich erinnere mich, dass ich eine wahnsinnig nette Volksschullehrerin hatte. Ich kam ja damals aus Deutschland, mein Vater ist sehr früh verstorben, und diese Lehrerin war für mich eine Stütze, weil sie mich auch seelisch sehr hochgehalten hat.

STANDARD: Ein Fach, das es damals noch nicht gab, ist ab diesem Schuljahr neu etabliert: digitale Grundbildung. Was soll dieses Fach den Kindern vermitteln?

Faßmann: Das Schulsystem sollte die Möglichkeiten eines sehr viel individualisierteren und stärker selbstorganisierten Lernens durch den Einsatz von Lernsoftware nützen. Wenn Kinder unterschiedlich schnell sind beim Vokabellernen oder im Verstehen, was eine mathematische Funktion ist, dann soll ihnen durch eine gute Software ermöglicht werden, gleichsam in das nächste Level aufzusteigen. Im Rahmen der digitalen Grundbildung sollte auch verstanden werden, was digitales Denken eigentlich bedeutet, das Zerlegen komplexer Abläufe in einzelne Schritte, die dann möglicherweise zu programmieren sind. Das ist eine spezifische Art zu denken, und das muss man einmal verstanden haben. Kinder und Lehrer sollen Konsumenten des Digitalen sein, aber auch hinter die Kulisse schauen und selbst Produzenten digitaler Inhalte werden.

STANDARD: Wie wird die Digitalisierung die Rolle der Lehrerinnen und Lehrer verändern? Für viele ist sie auch angstbesetzt, da Kinder heute oft viel selbstverständlicher mit digitalen Geräten umgehen.

Faßmann: Ja, wir müssen einen Masterplan erstellen, wie wir den digitalen Einstieg in das österreichische Schulsystem bewerkstelligen können. Da sind neben der Hard- und Software die Lehrenden eine wesentliche Komponente, weil sie sozusagen die Pforte öffnen. Da brauchen wir sicherlich mehr Aus- und Fortbildung zum Thema Digitalisierung, weil sich die Rolle verändert. Lehrer sind dann nicht mehr die einzigen Wissensbringer in der Klasse, sondern Moderatoren eines Wissenserwerbs auch über das Netz.

STANDARD: Sind Sie dafür, dass jedes Kind, wie es ja auch schon der Vorgängerregierung für die fünfte und neunte Schulstufe vorschwebte, ein eigenes Tablet bekommt? Oft läuft die Diskussion ja darauf hinaus.

Faßmann: Für mich ist die Frage "Wie setze ich das Digitale ein?" vorrangig, also die Software, und das meine ich umfassend, auch Lehrpläne sind Teile der Software. Ich muss ja wissen, wo ich hinwill, und nicht nur, dass ich schneller irgendwo bin, um mit Qualtinger zu sprechen. Aber es ist klar, dass am Ende des Weges die Kinder und auch die Lehrerinnen und Lehrer im Besitz digitaler Endgeräte und die Schulen gut ausgestattet mit Breitbandanschluss und WLAN sind.

STANDARD: Soll der Staat die digitalen Geräte zur Verfügung stellen, oder sind Sie für das System "Bring your own device", also dass die Schülerinnen und Schüler ihre eigenen Handys oder Tablets mitbringen sollen, was aber die Gefahr einer sozialen digitalen Kluft birgt, weil wohl nicht alle Eltern Tablets für ihre Kinder kaufen können?

Faßmann: Unter den derzeitigen gesetzlichen Rahmenbedingungen ist die Frage relativ klar zu regeln: Der Schulerhalter ist höchstwahrscheinlich dafür zuständig, es sei denn, man betrachtet ein Endgerät wie ein Schulbuch, dann wäre es der Familienlastenausgleichsfonds. Auf alle Fälle in irgendeiner Form die öffentliche Hand. Aber natürlich ist das auch eine Frage der Ressourcen. Dass man die zu einem hohen Prozentsatz vorhandenen eigenen Geräte der Schüler nutzt, kann ein Zwischenschritt sein. Es bringt nichts, zu sagen, lasst eure digitalen Geräte draußen. Man muss sie sinnvoll in den Unterricht integrieren und auch ethische Grenzen des Gebrauchs der Geräte vermitteln.

STANDARD: Laut Zahlen aus Ihrem Ministerium verfügen derzeit nur plus/minus 50 Prozent der NMS, AHS und BMHS über WLAN, schnelles Internet haben nur jede zehnte NMS, jede dritte AHS und etwas mehr als ein Drittel der BMHS. Der Ausbau braucht Zeit und Geld. Bis wann können Sie jeder Schule WLAN zusagen?

Faßmann: Wir sind auf dem halben Weg, die Hälfte der Schulen ist gut ausgestattet. Wir brauchen klarerweise auch die linienhafte Infrastruktur, sprich Breitbandleitungen, um das Potenzial des Digitalen sinnvoll einsetzen zu können. Das ist keine Sache von heute auf morgen, sondern eines mehrjährigen Ausbauprogramms. Ich habe den Eindruck, dass Infrastrukturminister Norbert Hofer eine gewisse Technikaffinität besitzt und den Ausbau forcieren möchte, und Ministerin Margarete Schramböck ist überhaupt ein Fan des Digitalen, sie hat die Digitalisierung ja sogar im Namen ihres Ressorts. Es gibt in der Regierung, glaube ich, eine Bereitschaft, alle Schulen digital zu erschließen.

STANDARD: Wenn man mit Tablets in der Schule arbeitet, ist das natürlich ein Einfallstor für die Hard- und Softwareanbieter. Wie wollen Sie verhindern, dass sich die finanzstarken großen Marken ihre künftigen Kunden heranziehen?

Faßmann: Da gibt es Ausschreibungsverfahren und Compliance-Regeln. Man wird das nicht gegen, man muss das mit den großen marktbeherrschenden Firmen machen. Vielleicht gibt es ja auch besondere Konditionen. Der Wettbewerb kann auch hilfreich sein.

STANDARD: Die OECD hat 2015 erstmals untersucht, ob die Digitalisierung des Unterrichts überhaupt Erfolge zeitigt. Der Befund: PCs und Internet haben keine positive Auswirkung auf die Performance von 15- und 16-Jährigen in Mathematik, Naturwissenschaften und Lesen. Im Gegenteil: In jenen Ländern, in denen zwischen 2003 und 2012 überdurchschnittlich stark in schulische Hardware investiert wurde, haben sich die Lernerfolge in Mathematik im selben Zeitraum tendenziell verschlechtert. Und in Ländern, in denen Computer im Unterricht nicht flächendeckend eingesetzt werden, konnten Schüler ihre Lesefähigkeit im Schnitt rascher verbessern als in Ländern, in denen Laptops zur Normalausstattung zählen. Was folgern Sie daraus?

Faßmann: Das ist ein seriöser Befund, der sich mit meiner Alltagserfahrung deckt. Wer glaubt: "Kauft Hardware, und die Welt wird eine bessere werden", irrt mit Sicherheit. Man muss das einbetten in ein pädagogisches Konzept und die Lehrenden motivieren, das sinnvoll, aber dosiert einzusetzen. Das zeigt die Studie ja auch: Es gibt einen Peak, wenn man zu viel konsumiert, hat man eher negative Effekte. Hardware ohne gute Lernsoftware ist nichts.

STANDARD: Sind unsere Lehrpläne für die Möglichkeiten, die die Digitalisierung verspricht, passend, oder müsste man da auch einmal sehr grundsätzlich entrümpeln?

Faßmann: Natürlich brauchen wir eine Lehrplanreform. Wir haben das auch schon initiiert, weil so etwas dauert. Das ist eine Sache der nächsten Jahre. Wir müssen wirklich kritisch schauen, ob die Lehrinhalte, die in manchen Lehrplänen stehen, noch notwendig sind, gerade vor dem Hintergrund, dass man das Digitale für das Faktenwissen ganz wunderbar einsetzen kann. Wir müssen Lehrpläne, die teils 18 Jahre alt sind, entlasten, um Platz zu machen für digital relevante Inhalte.

STANDARD: Im Koalitionsprogramm steht "Prüfung einer Digitalisierung der Schulbuchaktion". Soll es künftig nur noch digitale Schulbücher geben?

Faßmann: Schon jetzt wandern die meisten Schulbücher als E-Books in ein Repositorium und sind digital verfügbar. Interessanterweise sind die Abrufzahlen relativ gering. Unsere E-Books werden zu wenig genützt. Das hängt sicher mit der Ausbildung der Lehrenden zusammen, aber auch mit der Tatsache, dass eben fünfzig Prozent der Schulen keinen guten Internetanschluss haben. Aber natürlich ist es eine vollkommen verständliche Vision, zu sagen, dass irgendwann das Gedruckte durch das digital verankerte Medium ersetzt werden wird.

STANDARD: Quer zur Digitaleuphorie setzen just im Silicon Valley, dem Mekka der Digitalpioniere, viele Eltern auf eine computerfreie Schule für ihre Kinder. In der Waldorf School of the Peninsula gibt es vor der achten Schulstufe keine technischen Medien im Unterricht. Die "New York Times" zitierte einen der Väter so: "The idea that an app on an iPad can better teach my kids to read or do arithmetic, that's ridiculous." Die Idee, eine App könnte seinen Kindern besser Lesen oder Rechnen beibringen, sei lächerlich. Lakonische Anmerkung der "NYT": "Mr. Eagle knows a bit about technology." Mister Eagle ist ein Google-Manager, der Computerwissenschaften studiert hat. Wie interpretieren Sie dieses Phänomen?

Faßmann: Ich gehöre auch zu jenen, die sagen: Der Einsatz technologischer, vor allem digitaler Instrumente löst nicht unsere Herausforderung im Bildungssystem. Ich sage aber auch: Es hat keinen Sinn, in der Schule künstlich einen digitalfreien Raum zu schaffen, wenn rundherum die Geräte das Leben der Kinder mitbestimmen. Deswegen führt eine digitale Apartheid zu wenig. Weder das eine noch das andere – Glorifizieren oder Verdammen – ist in seiner Radikalität richtig.

STANDARD: Wie halten Sie es denn persönlich mit Tablet und Co?

Faßmann: Ich lese Bücher und Zeitungen auf Papier, weil meine Augen da langsamer müde werden als vom Bildschirm. Und meinen Laptop liebe ich über alles, denn da habe ich mein Leben drauf, mein Großhirn, alle Aufsätze, alle Bücher, alles ist da drauf (lacht). (Lisa Nimmervoll, 3.9.2018)