Wer Christoph Hein liest, erfährt viel über die Gärungsprozesse in den neuen Bundesländern.

Foto: Heike Steinweg

Der gar nicht heimliche, eher unheimliche Held in Christoph Heins famosem neuen Roman "Verwirrnis" ist ein Folterinstrument. Gemeint ist eine Klopf- oder Riemenpeitsche; sieben Lederstreifen umspielen den Kopf des Schlagwerkzeugs, sobald es von seinem Besitzer, einem verkorksten Studienrat und rigiden Kleinstädter, gegen dessen eigenen Sohn erhoben wird.

Erzählt wird eine gar nicht immer recht einleuchtende, nichtsdestotrotz packende Geschichte der Empfindsamkeit. Friedeward Ringeling – er heißt tatsächlich so – sieht sich in den Jahren des Heranwachsens immer unabweislicher mit der eigenen Homosexualität konfrontiert.

Chancen eines Gesellschaftsprojekts

Seine Freundschaft zu dem innerlich deutlich freieren Kantorssohn Wolfgang eröffnet ihm den Zugang zu den Hilfsmitteln des Geistes. Wir lernen, von Hein meisterhaft durch die noch morgenroten Anfänge der DDR gelotst, viel über die verpassten Gelegenheiten und verschenkten Chancen eines ursprünglich einmal hoffnungsfroh begonnenen Gesellschaftsprojekts. In dem die gleichgeschlechtliche Liebe nicht minder verpönt (wenn auch bald nicht mehr sanktioniert) war als im benachbarten Westen.

Friedewards Vater Pius, ein kriegsversehrter Katholik, erhebt, als ihm das Schwulsein des Sohns einigermaßen evident scheint, die Hand gegen sein eigenes Kind. Schauplatz der Züchtigung ist ausgerechnet ein Nest namens Heiligenstadt. Die Lederstreifen des "Siebenstriemers" sausen in trostloser Regelmäßigkeit durch die Luft, nieder auf Friedewards zarten Rücken. In Heins meisterhaft maulfauler Prosa erscheint das Milieu vieler späterer Anti-Kommunisten als eine weihrauchduftende Hölle auf Erden.

Ausdrucksarmut

Der autoritäre Charakter befindet sich eben nicht exklusiv im Monopolbesitz einer bestimmten Gesellschaftsschicht oder im Repertoire einer herrschenden Klasse. Er ist als Streubesitz gleichmäßig verteilt. Er macht es unmöglich, über gewisse Erfahrungswerte anders als im Tone des Klischees zu sprechen. Wenn Friedeward "vom Körper des Freundes nie genug kriegen kann", dann scheint Heins Sprache mit jener Art Ausdrucksarmut geschlagen, die sie ihrerseits gegen historische Mängel ins Treffen führt.

Ostdeutschland muss noch im illusionslosen Rückblick die Bürde der Borniertheit tragen. Man kann nicht sagen, Christoph Hein wäre über die Jahre milder geworden, auch wenn er die eigene, ohnehin stark schaumgebremste Beredtheit noch einmal stärker drosselt als in vergangenen Büchern.

Friedewards bescheidener Aufstieg in den akademischen Milieus von Jena und vor allem Leipzig wird mit ein paar bissigen Karikaturen garniert, etwa auch mit einem liebenswürdigen Spottbild von Stargermanist Hans Mayer. Die Versuche, gegen die vielen ungeschriebenen Gebote in der DDR eine Politik der Gefühle zu behaupten, gipfelt nicht nur in einer "heterosexuellen" Ehe, die Friedeward zu Tarnungszwecken mit einer Lesbierin schließt. Die Geschichte der Liebe zu Wolfgang verblasst eigentümlich: Produkt auch der Republikflucht des letzteren. Im schleißigen Umgang mit eigenen Begabungen war Ulbrichts Reich beispielhaft töricht.

Bekanntschaft mit der Stasi

Der Junggermanist Friedeward aber – er forscht ausgerechnet über "Fortsetzungsromane" – schließt spät, aber doch auch Bekanntschaft mit der "Firma Horch, Guck und Greif", vulgo der Staatssicherheit. Das Bestreben, der eigenen Existenz ein Höchstmaß an Würde zu verleihen, gipfelt im unüberbietbaren Erweis der Souveränität. Bei dieser kargen Feststellung lässt es Hein bewenden.

Noch immer schreibt dieser Meisterromancier weiter am Fortsetzungsroman eines selbstbestimmten Bildes vom Leben in Würde und Freiheit. Der Mittsiebziger ist unentbehrlicher denn je. Wer Hein liest, wird über die aktuellen Gärungsprozesse in den neuen Bundesländern äußerst aufschlussreich in Kenntnis gesetzt. Man scheut sich somit auch, "Verwirrnis" einen regelrechten Bildungsroman zu nennen. (Ronald Pohl, 2.9.2018)