Mit Spielzeitbeginn wird an den Bühnen wieder geschrien, gefurzt und Blut verspritzt – und die Zukunft des Stadttheaters diskutiert: Das System ist hierarchisch, homogen, und an viele Publikumsschichten kommt man nicht heran. Hier ein Probenbild aus "Europa flieht nach Europa", das am 3. 10. im Burg-Kasino Premiere hat.

Foto: Reinhard M. Werner

Die Theaterferien sind zu Ende. Die Proben für die ersten Premieren kommen in die heiße Phase. Schlag auf Schlag geht es diese Woche in Wien. Auf die Koproduktion mit den Salzburger Festspielen im Akademietheater, Kommt ein Pferd in die Bar, folgen eine Daniel-Kehlmann-Uraufführung am Theater in der Josefstadt sowie der Volkstheater-Auftakt mit Der Kaufmann von Venedig. An der Burg hält Klaus Manns Mephisto Einzug.

Pünktlich zum Spielzeitanpfiff gehen die Diskussionen über das Stadttheater wieder los. Man bekrittelt Spielpläne, weil sie zu wenig Zeitgenössisches enthalten oder zu wenig Shakespeare oder zu wenig Österreichisches. Vor allem aber sieht sich das Stadttheater grundsätzlich mit neuen Herausforderungen konfrontiert.

Mit dem gesellschaftlichen Wandel der letzten Jahrzehnte haben sich die Anforderungen an das Stadttheater merklich geändert. Dieser Wandel, verbunden mit einer sich internationalisierenden Bevölkerung, aber auch mit einem gesteigerten Bedürfnis nach Mitbestimmung, macht Druck auf die Häuser. Worum geht es genau?

Wie kann man das Stadttheater neu denken?

Einer, der nicht lange fackelt, hat auf diese Frage eine Antwort gefunden: Der Schweizer Theatermacher und Regisseur Milo Rau will am Nationaltheater Gent ein "neues Stadttheater" etablieren. Er tritt mit einem Zehn-Punkte-Manifest die Intendanz des Hauses an.

Am 28. September wird mit dem Stück Lamm Gottes eröffnet. Dabei wird der berühmte Genter Altar von Jan van Eyck nachgestellt. Jede Figur wird besetzt, auch das Schaf (mit einem Schaf). Die meisten der Manifest-Regeln sind technischer Natur und höchst ambitioniert: Punkt zehn etwa verlangt, dass "jede Inszenierung an mindestens zehn Orten und in mindestens drei Ländern gezeigt werden muss". Am provokantesten ist aber Nummer vier: "Die wörtliche Adaption von Klassikern ist verboten." Echt? Ja, so steht es geschrieben.

Dass es Milo Rau mit diesem Manifest bierernst meint, darf bezweifelt werden. Vielmehr ist das Regelwerk – ähnlich wie es einst jenes für die dänischen Dogma-Filme der 1990er-Jahre war – als Appell zu werten, das Stadttheatersystem, das Herzstück des deutschsprachigen Theaters, neu zu überdenken. Milo Rau beginnt damit vorsichtshalber einmal in Belgien. Namhafte Regisseure wie Luk Perceval oder Ersan Mondtag folgen ihm.

Wie viel Diversität muss sein?

Eine große Frage in Zeiten von gesteigertem demokratischem Selbstverständnis und Teilhabe betrifft die Erschließung von heterogenerem Publikum. Die Häuser parieren mit mehr oder weniger effektiven Ideen, von Bürgerbühnen bis hin zu gezielter Publikumsarbeit, wie sie etwa die Schiene "Offene Burg" am Burgtheater verfolgt. Diese will die städtische Bevölkerung jenseits der Donau einbinden. Das folgt der Erkenntnis, dass das Theater nicht überall dort ankommt, wo es sollte.

Mehr Diversität wird aber auch auf der Bühne eingefordert. So gemischt wie einst die Ensembles von Christoph Schlingensief sind die Stadttheatermann- und -frauschaften heute längst nicht. Das hängt auch mit den auf homogen gebürsteten Ausbildungsstätten zusammen. Wie rückständig die Theater im Vergleich zur Bevölkerungsentwicklung aber sind, zeigte auf frappierende Weise die Inszenierung Mittelreich von Anta Helena Recke an den Münchner Kammerspielen auf. Die Regisseurin hat in der vergangenen Saison eine bereits bestehende Inszenierung von Josef Bierbichlers bayerischem Wirtshausepos mit einem schwarzen Cast gecovert. Und damit begreiflich gemacht, wie homogen und weiß Dramaturgie, Besetzung und letztlich auch die Kritik im Theaterbetrieb sind.

Wie weit kann man sich gegenüber der freien Szene öffnen?

Die Münchner Kammerspiele sind nicht umsonst Schauplatz eines politisch-ästhetischen Richtungsstreits am Stadttheater, in dem sich repräsentativer und produktiver Duktus begegnen. Um sich künstlerischen Neuerungen zu öffnen, versucht Intendant Matthias Lilienthal eine Anbindung freier Produktionsweisen an das Haus. Damit einher geht auch ein performativer Spielstil, der einige etablierte Starschauspieler bereits zum Abgang motivierte, darunter auch Ex-Buhlschaft Brigitte Hobmeier. Lilienthals Kammerspiele berühren einen wichtigen Punkt: Wieweit kann sich das herkömmliche Stadttheater der freien Szene öffnen? Die Politik hat sich allerdings bereits dagegen entschieden. Lilienthal hat seinen Vertrag nicht verlängert.

Geht die deutsche Sprache verloren?

Auch sprachlich sieht sich das Stadttheater neuen Herausforderungen gegenüber. In manchen Häusern ist es bereits zur Pflicht geworden, englischsprachige Übertitel zu gewährleisten. Das Wiener Volkstheater hat sich für Nathan der Weise neben Englisch sogar eine arabische Übertitelung geleistet. Aber auch die Bühnensprache selbst ist nicht mehr ausschließlich Deutsch. Viele jüngere Dramentexte sind multilingual, weil sie so unsere Gesellschaft besser erfassen, zum Beispiel Liat Fassbergs Etwas kommt mir bekannt vor im Vestibül des Burgtheaters.

Regisseure: Zu viel Macht?

Hinterfragt wird – nicht erst seit #MeToo – auch die Macht des Regisseurs. Seine durch Stadttheater-Hierarchien gestärkte, "gottgleiche" Position zieht auch Milo Rau in Zweifel. Er gibt in seinem Genter Manifest der kollektiven Autorschaft den Vorzug und meint, Theater sei das Werk aller daran Beteiligten. Die strukturellen Abhängigkeitsverhältnisse aber begünstigen den Machtmissbrauch, oft legitimiert durch das Argument notwendiger kreativer Freiräume. Ist es also Zeit für eine "ethic policy"?

Wo bleiben die Frauen?

Der geringe Frauenanteil ist ein weiteres Problem festgezurrter Machtstrukturen am Theater. Lediglich 22 Prozent der Intendanzen haben Frauen inne. Und in 70 Prozent der Fälle führen Männer Regie. Das Gehaltsgefälle ist deprimierend (bis zu 1000 Euro Unterschied bei 40-Jährigen). Als Retourkutsche bestreitet Anna Bergmann nun ihre erste Spielzeit als neue Schauspielchefin am Staatstheater Karlsruhe ausschließlich mit Regisseurinnen. Umgekehrt würde das kaum auffallen.

Will man sich Ensembles noch leisten?

Viele Baustellen also, an denen der Stadttheaterapparat arbeiten muss. Und das bei absehbar schwindend großen Budgets. Viele Häuser sind heute gezwungen, mit einem deutlich kleineren Ensemble als noch vor Jahren mehr zu produzieren. Die Schere geht auseinander. Selbst das "Theater des Jahres" in Basel leidet unter Ressourcenknappheit. Als Zeichen für diesen Wandel im politischen Zuspruch gilt auch der Fall Berliner Volksbühne, dessen Ensemble leichtfertig aufgelöst wurde. Und ob das Wiener Volkstheater nach Anna Badoras Abgang in zwei Jahren ein Ensembletheater bleiben wird, ist alles andere als gewiss. (Margarete Affenzeller, 3.9.2018)