Mittagessen mit Blick aufs Meer, ein romantischer Spaziergang am Strand, danach ein gemütlicher Abend im Hotelzimmer in trauter Zweisamkeit – klingt wie ein klassischer Pärchenurlaub. Der Schauplatz: die japanische Küstenstadt Atami, ein beliebter Urlaubsort, eine Stunde von Tokio entfernt.

Nur eine Sache ist anders: Die Männer, die hier herkommen, haben ihre Freundin auf dem Smartphone oder in der Nintendo-Spielkonsole dabei. Die Frauen heißen Manaka, Rinko oder Nene und sind fiktive Charaktere in dem Spiel "Love Plus". Es geht wie im echten Leben darum, mit der Freundin eine Beziehung zu führen und sie gut zu behandeln. Wird der Freund nachlässig, beschwert sich die digitale Partnerin.

Partnersuche im Internet – die Mäuse von einst sind die Apps von heute. Auf Grindr und Tinder werden potenzielle Geschlechtspartner "geswipt": Links heißt nein, rechts ja.

Die Reise nach Atami haben die Entwickler von "Love Plus" vor einigen Jahren ins Leben gerufen. Im ganzen Ferienort und im eigens dafür eingerichteten Hotel gibt es Barcodes, die, nachdem sie gescannt wurden, die virtuelle Freundin auf den Bildschirm holen. Aktuell warten viele "Love Plus"-Spieler auf ein Update ihrer Freundin. Viele sind mit der virtuellen Partnerin schon seit Jahren zusammen, stören sich mittlerweile aber an ihrer Eintönigkeit, etwa daran, dass sie immer wieder dieselben Antworten gibt. Und dennoch: Für sie sind Manaka, Rinko oder Nene die große Liebe, sie haben echte Gefühle entwickelt. Romance-Simulation-Spiele, in westlichen Ländern kaum verbreitet, sind in Japan beliebt und rufen bei der breiten Masse keineswegs mitleidiges Kopfschütteln hervor.

Mechanische Geschlechtsorgane

Auch in Europa finden Beziehungen und Sex zunehmend online statt. Das Gegenüber ist fiktiv oder real. "Es wird nicht nur geschrieben, Kontakt funktioniert auch über Webcams oder sogenannte Data Suits", sagt Roland Mader vom Wiener Anton-Proksch-Institut. Das sind mit Elektroden versehene Ganzkörperanzüge, mit denen sich Nutzer gegenseitig spüren können, obwohl jeder daheim vor dem PC sitzt. "Mit sogenannten Teledildonics, das sind mechanische Geschlechtsorgane, die man sich anlegt, können Bewegungen direkt übertragen werden. Das ist Cybersex bis zur Perfektion", so Mader.

Im sogenannten "Second Life", also einer Parallelwelt im Internet, die der realen Welt sehr ähnlich ist, basteln Menschen sich einen Avatar. "Man kann sich auch schöner machen, so wie man sich eben gerne hätte. Dann trifft man andere, geht mit ihnen shoppen, fährt auf Reisen oder hat Sex", weiß Mader.

Finde Sexualität online statt, gingen zwischenmenschliche Werte verloren, die Sexualität im realen Leben werde weniger wichtig, Nutzer isolierten sich, so der Experte. "Beziehung kann nur face-to-face gelernt werden, Gefühle werden real viel intensiver erlebt als online. Da geht es nicht nur um Sexualität, auch Zuneigung, Geborgenheit und Liebe gehen verloren. Das ist ein großes Problem", so Mader

Intensivere Reize

Durch die intensive Nutzung digitaler Pornografie könne es auch zu einem Ausleiern des sexuellen Stimulus kommen. "Man braucht dann auch in der Realität immer stärkere Reize und intensivere Erlebnisse, um erregt zu werden." Im schlimmsten Fall ist die sexuelle Fantasie die Vergewaltigung. Sie findet auf einschlägigen Plattformen und in Games statt. Mader glaubt nicht, dass solche Nutzer auch in der realen Welt zu Vergewaltigern werden. "Für gewöhnlich sind Menschen widerstandsfähig gegen solche Verführungen." Sein Vergleich: Massenmörder spielen oft Egoshooter, aber nicht jeder, der Egoshooter spielt, wird auch zum Massenmörder. Dennoch: Vor allem die mangelnde Kontrolle im Darknet hält Mader für gefährlich: "Dort passieren schlimme Dinge, auch sie werden immer mehr konsumiert. Die Politik muss sich hierfür etwas überlegen."

"Mit ein Grund, warum sich Sexualität immer öfter ins Internet verlagert, ist die Angst vor sexuell übertragbaren Krankheiten", sagt Mader. Tatsächlich ist es in den letzten sieben Jahren bei Geschlechtskrankheiten wie Syphilis, Gonorrhoe, Chlamydien-Infektionen und HIV-Neuinfektionen zu einem leichten, wenn auch nicht dramatischen Anstieg gekommen, sagt Georg Stary, Dermatologe an der Med-Uni Wien. Sowohl Stary als auch Mader vermuten, dass die steigenden Zahlen mit der guten Behandelbarkeit von HIV zusammenhängen. Stary: "Der Schrecken ist verlorengegangen, immer mehr wird ungeschützter Geschlechtsverkehr praktiziert." Vor allem homosexuelle Männer, die die HIV-Prep (HIV-Präexpositionsprophylaxe, Anm.) einnehmen können, würden diese Medikation oft als Ersatz für das Kondom verstehen.

Online suchen

Das Internet hat auch die Partnersuche durch Plattformen wie Grindr oder Tinder viel einfacher gemacht. Welchen Anteil die Apps an der Zunahme sexuell übertragbarer Krankheiten spielt, ist Thema von Untersuchungen. Eine Studie, für die das Sexualverhalten von 166 Studenten aus Hongkong untersucht wurde, hat 2016 einen eindeutigen Zusammenhang zwischen der Nutzung von Dating-Apps und risikoreichem Sexualverhalten festgestellt.

Eine 2017 im British Medical Journal veröffentlichte Studie hat gezeigt, dass Menschen, die online Sexualpartner suchen, ein höheres sexuelles Risikoverhalten aufweisen. Eine Korrelation zwischen der Nutzung dieser Apps und der Zunahme sexuell übertragbarer Krankheiten hat Dermatologe Stary allerdings nicht beobachtet: Seit drei bis vier Jahren sind diese Apps vermehrt in Verwendung. In diesem Zeitraum ist es nicht zu einem massiven Anstieg der Erkrankungen gekommen. Die Fallzahlen haben sich seit 2011 erhöht. "Sex geht dadurch schneller, man kann sich aber trotzdem vor Infektionen schützen."

Anonym und kostenlos

Einfluss nehmen Dating-Apps, die in vielen Fällen hauptsächlich für Verabredungen zum Sex verwendet werden, aber in jedem Fall darauf, wie sich Sexualität in den letzten Jahren verändert hat. "Für sämtliche Vorlieben gibt es unzählige Angebote, leicht verfügbar, anonym und kostenlos. Das Internet ist dazu da, rasch zu potenziellen Sexualpartnern zu kommen. Promiskuität und Casual Sex waren noch nie so hürdenlos verfügbar. Dadurch wird alles oberflächlicher, auch Beziehungen verändern sich dadurch möglicherweise", sagt Mader.

Vor allem für Homosexuelle haben Apps die Partnersuche verändert. Sie hat früher in einschlägigen Bars, Hinterhöfen, Parks oder Bahnhofstoiletten stattgefunden, war mitunter unhygienisch und gefährlich. Heute funktioniert Vernetzung über Plattformen und Apps, die potenzielle Sexpartner in der Nähe inklusive ihrer Vorlieben anzeigen. Sex funktioniert wie auf Bestellung. Äußerlichkeiten sind oft der einzige Faktor, auf den es ankommt. Ein Beispiel ist etwa die speziell für Schwule entwickelte App Stndr, sie zeigt zuerst die Geschlechtsteile der User an, erst wenn es zu einem "Match" kommt und beide Seiten den Penis des anderen attraktiv finden, sind die Gesichter zu sehen. Gerade die Schnelligkeit, mit der Sex durch Apps verfügbar wird, macht unvorsichtig. Stary fordert mehr Aufklärung von den Betreibern solcher Apps.

Immer noch wüssten Nutzer nicht, dass viele Geschlechtskrankheiten auch durch Oralverkehr übertragen werden können und etwa im Fall der humanen Papillomviren (HPV) im Mund und Rachen zu Tumoren führen können. "Viele Erkrankungen verlaufen zudem ohne Symptome, sind aber dennoch hochinfektiös. Weil sie ohne Beschwerden sind, wissen viele nicht, dass sie sich angesteckt haben", so Stary.

Medizin wird knapp

Und noch eine Tatsache kommt erschwerend hinzu: Gerade bei genitalen Keimen wirken Antibiotika immer schlechter. "Gonokokken sprechen dann auf Antibiotika nicht mehr an. Auch andere Bakterien, etwa Mykoplasma genitalium, die bisher in Österreich nicht nachweisbar waren und nur in speziellen Zentren diagnostiziert werden können, entwickeln zunehmende Resistenzen", sagt Stary.

Das Gute am virtuellen Dating: Auch infizierte Patienten brauchen auf Sex nicht zu verzichten, Dating-Apps wie Plus Side oder Hope helfen Patienten mit Herpes, Hepatitis oder HIV bei der Partnersuche. (Bernadette Redl, 4.9.2018)