Unter den neuen Kämpfen in Tripolis, vor allem im Süden der Stadt, leiden vor allem Zivilisten. Migranten sitzen in den von der Regierung errichteten Lagern ohne Versorgung fest.

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In Libyens Hauptstadt Tripolis zerbricht soeben endgültig eine Illusion: Die unter Uno-Vermittlung im Dezember 2015 zustande gekommene und – zumindest offiziell – international anerkannte Regierung von Premier Fayez al-Serraj konnte sich zwar nie auf nationaler Ebene, vor allem im Osten des Landes, durchsetzen. Aber die ausländischen Unterstützer Serrajs hofften, dass er zumindest in Tripolis seine Schwäche durch die Kooperation diverser Milizen ausgleichen und dadurch Stabilität erlangen könnte.

Aus diesem Grunde wurde darüber hinweg gesehen, dass es sich bei den der Regierung zugerechneten Milizen teilweise um radikale Islamisten, teilweise auch nur einfach um kriminelle Banden handelt, die vor allem an eigener Bereicherung und Machterweiterung interessiert sind. Sie werden jetzt ihrerseits von anderen Milizen angegriffen. Tripolis, besonders der Süden der Stadt, erlebt die schwersten Kämpfe seit 2014. Es gibt bereits dutzende Tote. Die allgemeine Sicherheitslage wird auch noch dadurch verschärft, dass am Sonntag 400 Häftlinge die Unruhen nutzen konnten, aus einem Gefängnis zu entkommen.

Auch Flüchtlinge und Migranten sind betroffen, sie sitzen durch die Kampfhandlungen teilweise in den von der Regierung errichteten Lagern fest. Dort ist ihre Lage schon ohne neuen Krieg katastrophal. Nun werden sie überhaupt nicht mehr versorgt.

Die siebente Brigade aus Tarhouna

Die treibende Kraft der aktuellen Kämpfe ist die sogenannte siebente Brigade, auch Kaniyat oder Kani-Miliz genannt, nach den drei Kani-Brüdern, unter deren Kommando sie steht. Sie sind in Tarhouna beheimatet, gut 60 Kilometer südöstlich von Tripolis. Die siebente Brigade wurde ursprünglich dem Verteidigungsministerium zugerechnet, also eigentlich auch der Regierung. Nun wollen die Kaniyat Tripolis von den "korrupten" Milizen säubern. Sie haben einige Verbündete in Misrata und Zintan gefunden, die mit ihnen vom Süden her in die Hauptstadt einrücken.

Die Karten der Milizenherrschaft in Tripolis – dafür hat sich der Begriff Milizenoligopol etabliert – werden also neu gemischt, Vermittler von außen können, um die für die Zivilisten fatalen Kämpfe zu stoppen und den möglichen Sturz Serrajs zu verhindern, nur neue Arrangements aushandeln. Aber Tripolis bleibt in der Milizenfalle.

Wenn der Schlüssel zur Verteilung der "Beute" nicht mehr den wahren Machtverhältnissen entspricht, dann wird neu verteilt. Der Libyen-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin Wolfram Lacher, bereits Gast beim Nahost-Jour-fixe von der Österreichischen Orient-Gesellschaft und dem STANDARD, bringt es in seinen aktuellen Tweets auf den Punkt: Vereinbarungen zur Beilegung von Bürgerkriegen führten oft dazu, dass die Eliten die Institutionen und die Renten, die sie bringen, kapern. Daraus folge, dass mehr oder weniger jede Lösung, die Konflikte in Libyen zu beenden, ein "deal to steal" sein werde, eine Lizenz zum Stehlen.

Lacher hat vor kurzem gemeinsam mit Alaa al-Idrissi einen Band über die Tripolis-Milizen veröffentlicht, "Capital of Militias", mit dem aussagekräftigen Untertitel: "Wie eine Handvoll Milizen Tripolis unter sich aufteilt und sich währenddessen in kriminelle Netzwerke verwandelt, die von dem, was vom libyschen Staat geblieben war, Besitz ergriff."

Für den österreichischen Libyen-Experten Wolfgang Pusztai, auch er bereits Gast des STANDARD-Jour-fixe, begann das Übel damit, dass bald nach dem Sturz Muammar al-Gaddafis die provisorische Regierung dazu überging, die "Freiheitskämpfer" zu bezahlen. Ihre Zahl explodierte, und auch ein zweiter Schritt des Versuchs, sie unter Kontrolle zu bekommen, indem man sie kooptierte – das heißt, in die staatlichen Sicherheitskräfte zu integrieren versuchte -, ging schief.

Der IS und die Migration

Die internationale Politik ist völlig hilflos, man engagiert sich in Libyen vor allem wegen des Flüchtlings- und Migrantenproblems und weil auch in Libyen der "Islamische Staat" (IS), der 2016 aus Sirte vertrieben worden ist, nur oberflächlich besiegt worden ist. Und die beiden Themen hängen insofern zusammen, als der IS unter den in Libyen unter schrecklichen Bedingungen hängengebliebenen Migranten rekrutiert.

Die Regierung Serraj setzte sich, wie gesagt, nie durch. Nun soll – und hinter dieser Initiative steht Frankreich – neu gewählt werden, am besten ein Parlament und ein Präsident, und zwar schon im Dezember. Pusztai sieht nicht nur die Chancen auf die Abhaltung der Wahlen unter den derzeitigen Umständen als gering an, sondern befürchtet einen neuen destabilisierenden Effekt, wenn sie – etwa durch zu geringe Wahlbeteiligung – wieder keine politische Legitimität herstellen können. Die West-Ost-Spaltung in zwei Regierungen und zwei Parlamente, die durch die Bildung der Regierung Serraj überwunden werden sollte, war ja Folge der Wahlen 2014.

Eigentlich wollte man vor den Wahlen bereits im September auch über den Verfassungsentwurf von 2017 abstimmen. Aber das wird bisher vom Ost-Parlament, das sich einen dezentralisierten Staat wünscht, blockiert. Allerdings könnten die Wahlen auch unter der Verfassungserklärung von 2011 stattfinden, wie jene von 2012 und 2014. Auf alle Fälle: Es herrscht Chaos. (Gudrun Harrer, 4.9.2018)