Die Chili war in Österreich lange ein gutes Beispiel für misslungene Integration. 1543 wurde sie erstmals auf Deutsch beschrieben, spätestens mit den Osmanen gelangte sie nach Wien, ab dem 18. Jahrhundert wurde sie im botanischen Garten angebaut – bloß essen wollte sie lange keiner.

Dabei ist sie Vorzeigemigrantin. Fast überall, wo sie hinkam, feierte sie sensationelle Erfolge: Weniger als 80 Jahre nachdem sie 1492 erstmals von Europäern in Mittelamerika gekostet worden war, hatte sie sich rund um die Welt verbreitet und revolutionierte die Küche – außer im christlichen Europa. Das änderte sich erst, als andere, menschliche Migranten kamen.

Die ersten, die in Österreich scharfes Chilipulver in nennenswerten Mengen verspeisten, dürften Einwanderer gewesen sein, zunächst aus Ungarn, später Gastarbeiter aus der Türkei und Ex-Jugoslawien. Bis heute umweht Chili hierzulande ein Hauch von (östlicher) Exotik. Das Klischee vom feurigen Fremden wurde die Chili nie los. Auch deshalb ist sie namensgebend für Wiens Migrantenmagazin: Das Biber – mit scharf ist nach dem türkischen Wort für Chili und dem serbokroatischen für Pfeffer benannt.

450 Jahre nach ihrer ersten deutschen Beschreibung umweht die Chili in Österreich noch immer ein Hauch von Exotik.
Foto: Getty Images / iStockphoto / Golubovy

Gastroarbeiter

Es gibt wenig, was so von Migration geprägt wird wie unser Essen. In der Gastronomie zu arbeiten ist oft hart und schlecht bezahlt. Gastroarbeiter brauchen wenig bis keine Ausbildung und können sich auch mit mangelnden Sprachkenntnissen leicht selbstständig machen. Überall auf der Welt, vor allem in Städten, ist Gastronomie maßgeblich von Migranten geprägt.

In Österreich war das nicht anders. Im Wien der Gründerzeit stammten die meisten (niederen) Köche und Haushälterinnen aus den armen, vornehmlich (süd)östlichen Winkeln der Monarchie. In den 1960er- und 70er-Jahren kamen dann Italiener, Türken und Menschen aus Ex-Jugoslawien als Gastarbeiter. Ihre Lokale und Imbissstände prägen ganze Stadtteile, ihre Geschäfte machen es möglich, auch am Sonntag einzukaufen, und dank ihnen landeten einst exotische Produkte wie Oliven, Pasta oder (Tiefkühl-)Pizza im Supermarkt.

Urlaubsromantik

Doch wie beeinflussen Migranten das Essen der Menschen, die schon vor ihnen da waren? Wie und warum wird migrantisches Essen akzeptiert? Die deutsche Kulturwissenschafterin Maren Möhring schrieb ihre Dissertation über den Einfluss der Gastarbeiter auf die Esskultur in Deutschland und zeichnet ein sehr spannendes, komplexes Bild, das weit entfernt ist von einer Einbahnstraße.

Sie erzählt im Buch "Fremde Küche", wie deutsche Urlaubsromantik Aussehen und Küche der italienischen und griechischen Restaurants prägte und welche Rolle deutsche Touristen bei der Verbreitung der Pizza in Italien spielten. Einwanderer aus Süditalien sperrten in Deutschland Pizzerien auf, zu einer Zeit, als es in Italien selbst außerhalb Neapels gerade einmal zehn Pizzerien gab. Die Teigflade verbreitete sich im Rest des Landes schließlich auch dank deutscher Urlauber.

Eine ähnliche Geschichte hat Kebab. In der Form "gegrilltes Fleisch im Fladen mit Sauce und scharf" wurde es in Berlin erfunden. Mittlerweile eroberte es auch die Türkei (und gilt in China als deutsche Spezialität). In Österreich dürfte das ähnlich gelaufen sein, auch wenn hier zunächst die Bosna die Rolle des Döners übernahm.

Bild nicht mehr verfügbar.

Die Pizza wurde auch durch deutsche Touristen in Italien verbreitet.
Foto: apa/afp/getty images/raedle

Acht Schätze

Wer Erfolg haben will, muss sich anpassen. Die Chinarestaurants sind seit den späten 1980er-Jahren eine der gastronomischen Erfolgsgeschichten Österreichs. Allerdings nicht dank chinesischer Küche, sondern einer Neuerfindung von Gerichten wie "Acht Schätze" oder "Knusprige Ente", die es in China nicht gab (und gibt). Ähnlich, wenn auch weniger extrem, sieht es beim österreichischen Italiener aus.

Wie sehr sich eine fremde Küche etablieren kann, hängt auch vom Ruf ihres Herkunftslands ab. Der Italiener, der liebste Ausländer der Österreicher, ist im Luxussegment angekommen, auch wenn italienische Lokale in Wien oft von Menschen aus Ex-Jugoslawien betrieben und bekocht werden. Der Türke hingegen ist bis heute kaum über Imbiss und Billigsegment hinausgekommen. Während richtig scharfe Sichuanküche oder Piemonteser Spezialitäten gefeiert werden, interessiert sich keiner für "unverfälschte" anatolische Küche oder Feinkost aus der Bukowina.

Interessanterweise sind es oft Einheimische, die Landsleuten fremde Küchen näherbringen. Es waren nicht französische Migranten, sondern die Kalifornierin Julia Child, die die US-Amerikaner lehrte, französische Küche zu lieben. Der Boom der Thai-Küche im angelsächsischen Raum geht maßgeblich auf David Thompson zurück, der in Bangkok kocht, aber aus Australien stammt. Und es gibt wohl niemanden, der die Briten mehr zum italienischen Kochen brachte als die Engländerin Elizabeth David – bis ihr Jamie Oliver den Rang ablief.

Chili auf der Pizza

Gerade Österreich beweist aber, dass Migrantenküche auch in der Mitte der Gesellschaft ankommen, es zu einer Art Nationalheiligtum bringen kann – zumindest unter besonderen Umständen. Fans der Wiener Küche sind ausgesprochen stolz auf deren (angebliche oder echte) migrantische Vergangenheit: Ein Gutteil dessen, was sie darunter verstehen, entstand im späten 19., frühen 20. Jahrhundert, als Wien tatsächlich noch eine Weltstadt war und dank Zuwanderern aus allen Winkeln der Monarchie rasant wuchs. Als das Habsburger-Reich kollabierte, erfanden enttäuschte Monarchisten die "Wiener Küche". Was gerade noch böhmisch, ungarisch, serbisch war, wurde als ureigen vereinnahmt. Wenn es schon kein großes Reich mehr gab, sollte es zumindest noch eine große Küche geben.

450 Jahre nach ihrer ersten deutschen Beschreibung scheint auch die Chili in Österreich anzukommen. Bauern bauen sie an, Supermärkte verkaufen sie, Pizzerien stellen Chiliöl auf den Tisch, und manche Menschen essen sie sogar. Das verdankt sie allerdings wahrscheinlich eher US-Serien und -Filmen und einer anderen, wenn auch temporären Migration: Massentourismus und billigen Fernreisen. (Tobias Müller, RONDO, 9.9.2018)

Nachlese

Migranten wohnen meist schlecht und teuer

Wie Migranten den Jobmarkt umkrempeln

Wie wäre Österreich ohne Migranten?

Von einbrennte Hund und Pasta asciutta: Heimische Esskultur im Wandel