Eine idyllische Szene mitten auf einem See. Plötzlich rast ein Zug auf einen zu. Beim Künstler Chris Milk kann man diese Fantasie per Google-Brille hautnah erleben.

Foto: Chris Milk

Wenn der renommierte Direktor eines Kunstmuseums seinen Posten aufgibt, um fortan mit einem Start-up zusammenzuarbeiten, ist das ziemlich bemerkenswert. Daniel Birnbaum, bis vor kurzem Chef des Stockholmer Museums moderner Kunst, hat's getan. Was ihn zum Jobwechsel verlockte, mag irritieren – es ist die Virtual Reality (VR). Das kleine Londoner Studio Acute Art, dem Birnbaum nun vorsteht, ist spezialisiert auf Kunsterlebnisse in der virtuellen Realität.

Ja, das ist diese Technologie, für die man sich klobige Brillen auf den Kopf setzt, um in computergenerierte Umgebungen einzutauchen. Seit den 1990er-Jahren wird an der Kommerzialisierung gearbeitet, lange Zeit war die VR jedoch eine aufwendige Angelegenheit für Nerds: Ein Kabel von der Decke, das nabelschnurgleich mit dem VR-Brillenträger verbunden ist, rundherum ein Schwarm von Technikern, die Computerabstürze beheben – lange Zeit lag man nicht falsch, wenn man sich die VR so patschert vorstellte. Ihren Aufschwung erlebt sie, seit in jüngster Zeit große Player der Technologiebranche Brillen auf den Markt gebracht haben, die auch für Otto Normalverbraucher leist- und bedienbar sind.

VR-Brille zum Selberzusammenfalten

Google ging besonders weit. Das Unternehmen entwickelte eine VR-Brille aus Karton. Man faltet sie zusammen, legt das Smartphone ein und startet entsprechende Videos – schon kann man sich in virtuellen Welten umschauen. Die Produktion der Kartonbrille ist so günstig, dass die New York Times 1,6 Millionen Stück davon beilegte. Die Journalisten produzierten dazu entsprechende Videos. Betrachter fanden sich dann zum Beispiel mitten in die Unruhen im Irak versetzt.

Im Mainstream angekommen

Spätestens wenn die täglichen Neuigkeiten als immersive Erlebnisse konsumierbar werden, ist die VR im Mainstream angekommen. Dann wird die Entscheidung von Museumsdirektor Birnbaum nachvollziehbar, seine Kompetenzen einer Kunst im virtuellen Raum zu widmen, für die Superstars wie Marina Abramovic oder Verpackungskünstler Christo Beiträge leisteten. Dann wird klar, warum die Investmentbanker von Goldman Sachs den Markt der VR im Jahr 2025 auf 80 Milliarden Dollar schätzen. Eine Variante der VR ist die Augmented Reality (AR): Dabei bleibt die reale Welt hinter der Brille sichtbar, wird aber mit digitalen Inhalten überlagert – Stichwort Pokémon Go.

Googles Kartonbrille bietet natürlich nur eine Andeutung dessen, was mit aufwendigeren VR-Systemen unserer Zeit möglich ist. Da schnallt man sich dann den weltenberechnenden Computer als Rucksack auf den Rücken und bewegt sich frei im Raum, per Gesten- und Personenerkennung entstehen komplexe Szenerien; wenn die realweltliche Architektur auch noch auf die virtuelle abgestimmt ist, wird die Immersion sehr weit getrieben. Ein solches Projekt ist etwa der VR-Film Carne y Arena des Filmregisseurs Alejandro González Iñárritu.

ILMxLAB

Zum Flüchtling werden

Die Installation – angesiedelt in einem Raum, dessen Boden mit Sand bedeckt ist, um das Erlebnis zu verstärken – macht das Publikum zum Teil einer mexikanischen Flüchtlingsgruppe. Betrachter sehen sich einer Begegnung mit der US-Grenzpolizei ausgesetzt, die Soldaten zielen mit Pistolen auf den User, schreien ihn an. Diejenigen, die die gerade einmal siebenminütige Produktion erlebt haben, beschreiben sie als überaus eindringlich. 2017 wurde Carne y Arena in Cannes präsentiert, später mit einem Spezial-Oscar ausgezeichnet. Er wolle eines der ältesten Probleme der Menschheit mit der neuesten Technologie ansprechen, sagt Iñárritu.

Tatsächlich besteht eine wesentliche Hoffnung der VR-begeisterten Künstler darin, dass sie neue Mitgefühlspotenziale freisetzen können. Als "ultimative Empathiemaschine" bezeichnete die Technologie gar der US-amerikanische Filmemacher Chris Milk in einem Ted-Talk. Und nicht nur das: Wenn es nach ihm geht, ist die VR das "letzte Medium". Bei den traditionellen Medien sei es so, dass das Bewusstsein sie bloß interpretiere, hier aber fielen Bewusstsein und Medium in eins.

TED

Charmante Technologiedemo

Diese Einschätzung Milks ist selbst dann noch eine Übertreibung, wenn man sie an den avancierten VR-Installationen der Gegenwart misst. Dass in Forschungslaboren daran gearbeitet wird, die Technologie noch weiter mit dem Körper zu verschmelzen, ist jedoch auch ein offenes Geheimnis. Wird es dereinst möglich sein, auch das Körpergefühl überzeugend in die VR-Illusion hineinzuziehen?

Augenblicklich befindet sich die Technologie in einer Phase, in der das breite Publikum sich erst daran gewöhnt. Dies erklärte der Künstler Frederick Baker, als im Frühjahr seine Arbeit Klimt's Magic Garden im Wiener Museum für angewandte Kunst eröffnet wurde.

Die Installation macht einen Fries Klimts als dreidimensionale Welt betretbar, ist allerdings nicht wesentlich mehr als eine charmant aufbereitete Technologiedemo. Erst wenn der Einstieg in die VR bewältigt sei, sagt Baker, werde es Künstlern möglich sein, die Sprache des Mediums in ihren Feinheiten zu entwickeln: Wie lenkt man die Aufmerksamkeit des Betrachters in einer frei begehbaren Welt? Welche Verantwortung ergibt sich für den, der Illusionen zaubert, zu denen Betrachter kaum Distanz aufbauen können?

MAK - Österreichisches Museum für angewandte Kunst / Gegenwartskunst

Der Künstler Chris Milk reflektiert medientheoretische Fragen in einer Arbeit, auf die im Katalog zur Ausstellung Lust der Täuschung in der Kunsthalle München verwiesen wird. Die Schau reiht die VR in eine Kulturgeschichte illusionserzeugender Kunst ein, zieht Verbindungslinien zu Trompe-l'oeil-Malerei und optischen Täuschungen. Milks Arbeit heißt Evolution of Verse und nimmt Bezug auf eine berühmte Episode der Kulturgeschichte: 1895 zeigten die Gebrüder Lumière in Paris als einen der ersten Filme Bildmaterial von einem Zug, der in einen Bahnhof einfährt; das Publikum floh in Panik aus dem Kinosaal.

Milk hat diese Episode in die VR verlegt: Der Betrachter befindet sich in einer idyllischen Szene mitten auf einem See, dann fährt plötzlich ein Zug auf ihn zu. Wer die Szene per Google-Brille durchlebt, wird zwar kaum in Panik verfallen. Der eine oder die andre, die's probiert hat, soll aber doch die Brille abgenommen haben. Einfach so, sicherheitshalber. (Roman Gerold, 5.9.2018)

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