Seit dem Tod Muammar al-Gaddafis ist die europäische Asylpolitik auf der Suche nach neuen Möglichkeiten, um die Bewegung von Asylsuchenden von Libyen Richtung Europa zu verhindern. Dies, obgleich die verstörende Menschenrechtssituation in Libyen seit langem bekannt ist. Die Eskalation der Lage in den letzten Tagen sollte jedenfalls neuen Anlass dafür geben, um Klarheit über die völkerrechtlichen Verantwortungen europäischer Staaten zu gewinnen. Denn abseits politischer Erwägungen haben sie sich durch die Zusammenarbeit mit Libyen auf ein rechtlich sehr dünnes Eis begeben.

"Wenn die Kämpfe nicht enden, kann es sein, dass wir unsere Arbeit für Flüchtlinge in Libyen einstellen müssen", so UNHCR-Chef Filippo Grandi Sonntagabend auf Twitter. Der Hintergrund: In Tripolis kommt es seit Tagen zu intensiveren bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen vermeintlichen Verbündeten. Milizen, die allesamt nominell die Einheitsregierung von Ministerpräsident Fayez al-Sarraj unterstützen, kämpfen um Einfluss in Libyens Hauptstadt.

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Tripolis unter Raketenbeschuss. Rauch über einem Lager für Vertriebene vergangenen Sonntag.
Foto: REUTERS/Stringer

Schwierige Gemengelage

Die politische Gemengelage in Libyen ist spätestens seit der Revolution schwer zu durchschauen. Die Ziele, die ursprünglich noch die Stämme und Milizen gegen Gaddafi vereinten, wurden nach seinem Tod 2011 wieder rasch von alten und neuen Rivalitäten abgelöst. Der Sicherheitsapparat aufeinanderfolgender Regierungen des Landes hat viele dieser seit der Revolution wuchernden Milizen integriert. Entsprechend stützte bisher auch die Einheitsregierung ihren bescheidenen Machtanspruch in Tripolis und Umgebung auf die Toleranz einflussreicher bewaffneter Gruppen.

Nun ist Libyen mit seinen Ölreserven seit den 1960ern ein Magnet für Arbeitsmigration aus weiten Teilen Afrikas und seit den frühen 2000ern ein Hauptknotenpunkt für Migration Richtung Italien und Europa. Italien hatte schon mit Gaddafi intensiv kooperiert, um die Bewegung von Asylsuchenden über das Mittelmeer zu verhindern; und wurde dafür vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte 2012 verurteilt. Die italienische Praxis der Zurückweisung nach Libyen, wo Asylsuchende Inhaftierung unter unmenschlichen Bedingungen erwartete, verstieß gegen das Folterverbot in der Europäischen Menschenrechtskonvention.

Industrialisierung der Schlepperei

Seit Gaddafis Tod müssen sich Italien und die EU einerseits neue Partner suchen. Andererseits sollen libysche Akteure jene Praxis weiterführen, für die Italien verurteilt wurde. So befindet sich seit spätestens 2017 die sogenannte libysche Küstenwache in der Region westlich und östlich von Tripolis im Fokus der Zusammenarbeit. Wenig überraschend steht auch die Küstenwache unter dem Einfluss und der Kontrolle konkurrierender Milizen, die zudem mit Schlepperei- und Menschenhandelsnetzwerken in Verbindung gebracht werden und an Haftanstalten für Migranten beteiligt sind.

Die Global Initiative against Transnational Organized Crime führte in einer rezenten Libyen-Analyse entsprechend aus, dass jemand, der an einem Tag noch Schlepper ist, am nächsten als Teil der Sicherheitsbehörden auftreten kann. Eine für Entführungen und Erpressungen von Migranten bekannte Bande mag gleichzeitig auch staatliche Haftanstalten leiten. Nicht zuletzt trägt die mit staatlichen Strukturen verzweigte Industrialisierung der Schlepperei und des Menschenhandels seit der Revolution zu einem äußerst gewaltsamen Umfeld für Asylsuchende und andere Migranten im Land bei.

Eine weitere Verschlechterung der menschenrechtlichen Lage von Asylsuchenden im Westen Libyens war bis vor kurzem kaum vorstellbar. Seit über zehn Tagen herrscht nun aber bewaffneter Konflikt in Tripolis. Die dort agierenden Milizen, die bis vor kurzem noch für relative Stabilität in der Hauptstadt sorgten und denen Kidnapping und Schutzgelderpressung in mafiösem Stil vorgeworfen werden, sollen von Milizen aus Tarhuna, Misrata und Zintan zerschlagen werden. Inmitten der grob unübersichtlichen Lage – der Ausnahmezustand wurde bereits ausgerufen – sind die etwa 8.000 inhaftierten Asylsuchenden und andere Migranten in der Region dem teils willkürlichen Bombardement schutzlos ausgeliefert; viele harren ohne Zugang zu Nahrung unter widrigsten Haftbedingungen aus.

Rechtliche Verantwortung

Währenddessen wurden vergangene Woche erneut hunderte Asylsuchende von der Küstenwache am Mittelmeer abgefangen und nach Libyen retourniert. Und dazu war sie wohl – wie in zahllosen weiteren Fällen in den letzten Monaten – nur durch europäische Hilfe fähig. Die Realität ist: Die libysche Küstenwache wird durch Ausrüstung, Training und Koordination der EU und ihrer Mitgliedstaaten – finanziert durch Entwicklungsgelder – in die Lage versetzt, Asylsuchende an der Überfahrt nach Europa zu hindern und nach Libyen zurückzuführen, wo sie systematischer Inhaftierung und Folter ausgesetzt sind.

Dabei verletzt einerseits natürlich Libyen selbst regelmäßig unter anderem das Recht auf freie Ausreise und vor allem das Folterverbot. Andererseits ist aber auch Europa in der rechtlichen Verantwortung. Denn nach Völkergewohnheitsrecht sind Staaten in bestimmten Fällen für das rechtswidrige Handeln anderer Staaten verantwortlich, indem sie beispielsweise in Kenntnis der Umstände Unterstützung für solches Handeln zukommen lassen. Die Praxis der Zusammenarbeit mit Libyen, um den Zugang zum Recht auf Asyl in Europa zu verhindern, steht daher in Widerspruch zu den völkerrechtlichen Verpflichtungen von EU-Staaten.

Europas Grenzen

Infolge dieser Dynamiken sind Asylsuchende derzeit in Libyen beinahe vollständig eingekesselt. Als Antwort auf jüngste Entwicklungen hat nun auch das UNHCR dazu aufgerufen, alle Rückführungen nach Libyen einzustellen, bis sich die Lage wieder deutlich verbessert. Das UN-Flüchtlingshochkommissariat fordert weiter, dass Personen, die aus Libyen flüchten, Zugang zum Territorium anderer Staaten erhalten sollten.

Die Einheitsregierung in Tripolis ist schon längst vom Gutdünken einflussreicher Milizen abhängig, die nicht zuletzt auch Europas Grenzen bereits in Libyen schützen sollen. Die Kämpfe um Einfluss und Macht in Tripolis lassen die Menschenrechtssituation von Asylsuchenden nun immer stärker eskalieren. Wenn Europa Libyen nun weiter dabei unterstützt, Asylsuchende an der Ausreise zu hindern und wieder in diese Lage zurückzuführen, sind Europas Grenzen in Libyen auch in rechtlichem Sinne schnell erreicht. (Adel-Naim Reyhani, 5.9.2018)