London – Sechs Monate nach dem Attentat auf den ehemaligen russischen Doppelagenten Sergej Skripal und seine Tochter ist sich die britische Staatsanwaltschaft bei den Tatverdächtigen sicher: Sie hat zwei russische Staatsbürger wegen versuchten Mordes an den Skripals und einem britischen Polizisten angeklagt.
Die beiden Verdächtigen waren laut Anklage mit russischen Reisepässen unter den Namen Alexander Petrov und Ruslan Boshirov mit einem Aeroflot-Flug wenige Tage vor dem Attentat auf Skripal eingereist. Skripal und seine Tochter waren am 4. März in der südenglischen Stadt Salisbury durch den Nervenkampfstoff Nowitschok schwer verletzt worden.
Neben Mordversuch wurden die beiden auch wegen des illegalen Besitzes chemischer Waffen angeklagt. Ein europäischer Haftbefehl sei ausgestellt worden, teilten die Justizbehörden mit. Man werde Russland jedoch nicht um die Auslieferung der beiden ersuchen, da die russische Verfassung die Auslieferung eigener Staatsbürger verbiete, erklärte eine Sprecherin der Justiz.
May macht GRU verantwortlich
Die britische Premierministerin Theresa May hat den russischen Militärgeheimdienst für den Nervengiftanschlag verantwortlich gemacht.
Die beiden mit Haftbefehl gesuchten Verdächtigen in dem Fall seien Mitglieder des russischen Militärgeheimdienstes GRU und hätten höchstwahrscheinlich im Auftrag der russischen Regierung gehandelt, sagte May am Mittwoch im britischen Parlament.
Videoüberwachungsaufnahmen
Auf die Spur sind die Ermittler durch die in Großbritannien allseits präsenten Videoüberwachungskameras gekommen. Durch diese CCTV-Bilder konnten die Behörden rekonstruieren, dass die beiden Russen am Freitag, den 2. März am Flughafen Gatwick ankamen und am folgenden Tag in einem ersten Erkundungstrip nach Salisbury fuhren.
Laut der Antiterrorpolizei wurden Spuren des Nervengifts Nowitschok in dem Hotelzimmer in London entdeckt, in dem die beiden gewohnt hatten. Am Sonntag fuhren sie erneut nach Salisbury wo sie laut Behörden auf CCTV-Bildern in der Nähe des Hauses der Skripal-Familie zu sehen sind.
Laut Ermittlern sollen die beiden unmittelbar nachdem sie die Eingangstür des Skripal-Haushaltes verseucht haben via Zug und U-Bahn zum Flughafen Heathrow gereist sein, von wo sie am Sonntagabend zurück nach Russland flogen.
Keine Anklage wegen weiteren Todesfall
Keine Anklage wird wegen der Vergiftung zweier britischer Staatsbürger erhoben, die am 30. Juni in der gleichen Grafschaft plötzlich erkrankten. Einer der beiden hatte ein Fläschchen gefunden, das er nach eigenen Angaben irrtümlich für einen Parfümflakon hielt und seiner Freundin schenkte. Sie soll sich mit der Flüssigkeit – dem Nervengift Novitschok – eingerieben haben – die dreifache Mutter starb acht Tage nachdem sie ins Krankenhaus eingeliefert worden war.
Österreich wies keine Diplomaten aus
Infolge der Krise wiesen Großbritannien, die USA und verbündete Staaten – auch Deutschland – mehr als 140 russische Diplomaten aus. Der Kreml reagierte mit ähnlichen Maßnahmen. Österreich nahm keine Ausweisungen vor.
Die USA stellten zudem fest, dass Russland für den Einsatz von Massenvernichtungswaffen verantwortlich sei. Das löst laut US-Gesetz Sanktionen aus, wie es sie bisher nur gegen Nordkorea und Syrien gab. Seit Ende August ist eine erste Runde von Strafmaßnahmen in Kraft. Sie sind zwar noch relativ milde, doch der Rubelkurs und die Aktien russischer Unternehmen gerieten unter Druck.
Schwerer wird eine zweite Sanktionsrunde nach drei Monaten die russische Wirtschaft treffen. Sie könnte das Auslandsgeschäft russischer Banken lahmlegen; die Fluggesellschaft Aeroflot könnte Landerechte in den USA verlieren.
Geringe Überlebenschancen
Nowitschok gehört zu den tödlichsten Kampfstoffen und kann über die Haut oder Atemwege in den Körper gelangen. Die Überlebenschancen sind sehr gering. Sowjetische Forscher entwickelten die Serie neuartiger Nervengifte in den 1970er und 80er Jahren heimlich, um internationale Verbote zu umgehen. Auch andere Länder forschten damit.
Das Forschungslabor für Chemiewaffen im nahe Salisbury gelegenen Porton Down wurde mit den Untersuchungen der Skripal-Vergiftung befasst. Dort war auch das Nervengift Nowitschok identifiziert worden. (stb,red,APA, 5.9.2018)