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Das Eis rund um den Nordpol wird immer dünner. Mittlerweile geht es ans Eingemachte.

Foto: APA/AFP/GETTY IMAGES/MARIO TAMA

Bern – Die Arktis verliert rasant ihren Eispanzer, daran lassen bisherige Messungen und Beobachtungen kaum einen Zweifel. Während allerdings in früheren Jahren vor allem die dünneren Meereisschichten am Rande der Region betroffen waren, geht es mittlerweile bereits ans Eingemachte – gleichsam an die eisigen Reserven des Nordpols: Erstmals seit es regelmäßige Untersuchungen gibt, ist kürzlich das dickste Meereis der Arktis vor der Nordküste Grönlands aufgebrochen. Die aktuellen Beobachtungen untermauern jüngste Befürchtungen, wonach die Arktis deutlich schneller eisfrei werden könnte als bisher angenommen.

Gewaltig Riss im Eis

Höhepunkt dieser Entwicklung ist ein Riss, der diesen Juli an der Nordküste Grönlands durch das Eis lief und sich zu einer breiten Rinne offenen Wassers öffnete. Dort, wo der Beaufortwirbel, eine regionale Luftströmung, das Meereis zusammendrückt, ist die Eisschicht eigentlich besonders dick. Durchschnittlich vier Meter, an manchen Stellen sogar bis zu 20 – für Eisbrecher bislang nahezu unüberwindbar.

"Seit ich in den 1970er-Jahren angefangen habe, Meereis zu erforschen, sehe ich das zum ersten Mal", zeigt sich Konrad Steffen, Direktor der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL), erschüttert. Thomas Lavergne vom norwegischen Meteorologischen Institut beschreibt die Entwicklung via Twitter als "erschreckend" und illustriert sie in einem Retweet mit einer Animation.

Aktuell ungewöhnlich hohe Wert

Auch die Satellitenbeobachtungen seit den 1970ern zeigen, dass das Meereis dort bisher stabil war. Doch dieses Jahr stiegen die Temperaturen in der Arktis zweimal auf ungewöhnliche Werte. Im Februar herrschten zeitweise plus 5 Grad Celsius, wo normalerweise eher minus 20 Grad herrschen. Im Juli war es dann erneut ungewöhnlich warm.

Grund dafür war der Jetstream, eine wellenförmige Luftströmung, die die Nordhalbkugel umspannt und die Wetterlage beeinflusst. Je nach Beugungsgrad der Wellen kann dies zu ungewöhnlichen Wetterlagen führen: In diesem Fall trug der Jetstream warme Luft vom Atlantik nach Norden in die Arktis. "Dadurch haben wir diese unnatürlich warmen Temperaturen in der Arktis gehabt", erklärte Steffen.

Zersplittertes Eis

"Fast das gesamte Eis nördlich von Grönland ist zersplittert und aufgebrochen und deshalb sehr beweglich", kommentierte Ruth Mottram vom Dänischen Meteorologischen Institut Ende Juli. Offenes Wasser vor der Nordküste Grönlands sei sehr ungewöhnlich.

Weil offenes Wasser zudem mehr Sonnenenergie absorbiert als reflektierendes Eis, wärmt sich das Meer in dieser Region stärker auf. Das treibt das Schwinden der arktischen Eismassen weiter voran. So beschrieben US-Forscher der Yale Universität kürzlich im Fachblatt "Science Advances", dass im Kanadischen Becken große Mengen warmen Wassers gespeichert liegen.

Dieses Wasser wurde den Wissenschaftern zufolge durch Sonneneinstrahlung in südlicheren Regionen der Arktis, wo das Meereis bereits stark zurückgegangen ist, aufgeheizt und durch arktische Winde nach Norden und in tiefere Wasserschichten transportiert.

Genug Wärme für das Ende des arktisches Meereises

Noch liegt dieser Wärmespeicher "gefangen" unter der Oberfläche. Sollte er sich jedoch mit dem Oberflächen-nahen Wasser mischen, wäre das genug Wärme, um das gesamte Meereis der Arktis komplett zu schmelzen, erklärte Studienleiterin Mary-Louise Timmermans in einer Mitteilung der Yale-Universität.

"Wir wussten bereits, dass durch den Klimawandel die Arktis im Sommer früher oder später frei von Meereis sein wird. Es zeichnet sich ab, dass das viel schneller passieren wird als erwartet", kommentiert der WSL-Direktor.

Bisher habe es mehrjähriges und einjähriges Meereis gegeben – also solches, das mehrere Jahre überdauert, und solches, das jedes Jahr neu entsteht und wieder schmilzt. Schon jetzt gebe es fast nur noch einjähriges Meereis, so Steffen. Das nun aufgebrochene Eis könnte von Meeresströmungen erfasst und Richtung Island gedriftet werden, wobei es langsam schmilzt. Wie sich diese Entwicklung des Meereises vor der Küste auf den Eisschild auf dem grönländischen Festland auswirken wird, sei schwierig abzuschätzen.

Unklare Weiterentwicklung

Inzwischen schließt sich die Rinne wieder, weil Eis von Norden nachrückt. Und ob sich die Risse und Rinnen auch nächstes Jahr wieder bilden werden, ist noch unklar. Obwohl es ein dramatisches Zeichen für das Fortschreiten des Klimawandels wäre, hätte es für die Polarforschung durchaus Vorteile: 2019 plant das Schweizer Polarinstitut (SPI) eine internationale Expeditionsreise rund um Grönland an Bord eines Forschungsschiffs.

"Für bestimmte Strecken müssen wir einen Atom-Eisbrecher mieten, weil wir sonst nicht durch das dicke Meereis kämen", erklärt Steffen, der auch wissenschaftlicher Direktor des SPI ist. Ist das Meereis nächstes Jahr jedoch auch so dünn und aufgebrochen wie dieses, verkürzt sich der Abschnitt der Forschungs-Rundreise, für welchen der besonders starke – und teure – Eisbrecher nötig ist. "Dadurch hätten wir mehr Geld übrig für andere Aspekte der Expedition."

Unerforschte Region wird zugänglich

Die Entwicklungen in der Arktis dürften auch die Planung der wissenschaftlichen Projekte beeinflussen. "Wir werden das erste Forschungsschiff sein, das überhaupt in diese Regionen vordringt. Temperatur- und Salinitätsmessungen von dort gibt es bisher nur wenige", so Steffen. Die Forschenden an Bord werden beispielsweise die Meeresströmungen untersuchen und damit genauere Erklärungen finden, warum das bisher so stabile Meereis vor Nordgrönland nun bricht.

Die Arktis ist zwar fern, doch das Schmelzen der Pole wird auch in Mitteleuropa spürbar werden: Dadurch dürften sich Luftmassenbewegungen verändern, was sich auf das globale Klima- und Wettersystem auswirkt. (red, APA, 5.9.2018)