Vor der chinesischen Botschaft in Istanbul verbrannten Uiguren im Juli die chinesische Flagge und Poster von Chinas Staatschef Xi Jinping.

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Dass seine Mutter gestorben war, erfuhr Dolkun Isa einen Monat nach ihrem Tod. Der Uigure, der seit 22 Jahren in München lebt, las im Juni im Internet, dass seine Mutter am 17. Mai in seiner Heimatstadt Aksu in der chinesischen Unruheprovinz Xinjiang im "Lager Nummer 2" verstorben sei.

Aksu ist einer der gelben Punkte auf der Karte, die "Foreign Policy" zusammengestellt hat. Auf Grundlage von Satellitenbildern versucht das Magazin eine Bestandsaufnahme der Umerziehungslager in Xinjiang. Dolkun Isa nennt sie "Konzentrationslager". Und Xinjiang "Ostturkestan". Er ist der Präsident des Weltkongresses der Uiguren (WUC) mit Hauptsitz in München, der sich für die Rechte der muslimischen Minderheit im Nordwesten des heutigen China einsetzt.

Im August berichtete die Uno, dass bis zu eine Million Uiguren in solchen Lagern festgehalten seien, und zwar ohne jegliches Verfahren und ohne zu wissen, wie lange sie festgehalten werden, "unter dem Vorwand, gegen Terror und religiösen Extremismus" vorzugehen. "Wir wissen von so vielen Menschen, die dorthin gebracht wurden, doch von kaum jemandem, der herauskam", meint Isa dazu.

China weist die Vorwürfe zurück

Dass eine Millionen Uiguren in Umerziehungslagern festgehalten werden, sei "vollkommen falsch", reagierte Hu Lianhe, ein Vertreter der Kommunistischen Partei, Mitte August auf den Bericht. Ja, wenn sich Personen als Extremisten herausstellten, dann würden sie umerzogen. Aber Umerziehungslager gebe es nicht.

"China verschließt einfach die Augen", meint Isa zum STANDARD. "Dabei geht es nicht um ein paar hundert Leute, ein paar tausend oder ein paar zehntausend. Es geht um Millionen."

Isas Mutter, so konnte Radio Free Asia (RFA) in Erfahrung bringen, wurde wegen der Gefahr "extremistischer" Tätigkeiten vor etwa einem Jahr inhaftiert. Die damals 77-Jährige hatte ein paar Wochen zuvor, im April 2017, zum letzten Mal mit Isa telefoniert. "Uns geht es gut. Ruf uns nicht mehr an", hat sie damals zu ihm gesagt. "Seit 22 Jahren bin ich im Exil, aber das hat meine Mutter noch nie gesagt", erzählt Isa. Damals wusste er, dass die Situation ernst war, und rief seine Familie nicht mehr an.

Jahrelange Unterdrückung

Aktivisten wie Isa werfen den chinesischen Behörden werfen vor, seit Jahren die uigurische Minderheit zu unterdrücken: Die Muslime dürften ihre Religion nicht ausüben, schon muslimisches Begrüßungen könne zu Internierung führen, berichtet die Uno. Ein weltbekannter Anthropologe, Rahile Dawut, ist seit Dezember verschwunden. Im Jänner verstarb der 82-jährige Muhammad Salih Hajim, der in den 1980ern noch für seine Koran-Übersetzung ins Uigurische gefeiert wurde, in einem Lager.

Für die chinesische Regierung stellen die Uiguren eine Bedrohung der nationalen Sicherheit dar. "Bürger, die für die Umerziehungslager ausgewählt wurden, sind mit einer ideologischen Krankheit infiziert", nämlich "religiösem Extremismus", erklärt ein Mitglied der Kommunistischen Jugendorganisation von Xinjiang auf einer Tonaufnahme von Oktober 2017, die an RFA geleakt wurde. Deshalb müssten sie "in einem Spital als stationäre Patienten behandelt werden".

Vor allem seit den gewalttätigen Ausschreitungen 2009, bei denen 200 Han-Chinesen getötet wurden, greift die Regierung hart durch. Die Uno kritisiert in ihrem aktuellen Bericht auch, dass die Regierung in der Region großflächig biometrische Daten wie DNA-Proben und Irisscans sammle, nicht immer mit dem Wissen der Betroffenen. Weil die meisten Exil-Uiguren, die zurück nach China gebracht wurden, verschwunden sind, hat Deutschland Mitte August außerdem einen Abschiebestopp verhängt.

Uiguren-Kämpfer bei Jihadisten in Idlib

Für die chinesische Regierung sind Aktivisten wie Dolkur Isa Terroristen. Sie wirft ihm vor, die Abspaltung Xinjiangs von China zu organisieren. Außerdem sei der WUC der politische Flügel des East Turkestan Islamic Movement – bekannt auch unter anderen Namen wie Turkestan Islam Party –, das auf der Terrorismusliste des Uno-Sicherheitsrats steht. In Afghanistan kooperierte die Organisation mit den Taliban. Aktuell kämpfen hunderte Uiguren im syrischen Idlib auf der Seite jihadistischer Extremisten.

Auch Isa bestätigt, dass vor allem nach 2009 immer mehr Uiguren aus China in die Türkei geflohen seien und dort von radikalen Gruppen nach Syrien und in den Irak gelockt wurden – mit Geld und dem Versprechen, sich dort eine neue Heimat aufbauen zu können. So hätten sich manche von ihnen Extremisten angeschlossen. "Doch sie repräsentieren ja nicht die Uiguren! Es schließen sich von überall Menschen dem Jihad an, aus den USA, England und auch Deutschland", meint Isa dazu.

Keine Entspannung in Sicht

Aktuell sieht es nicht nach Entspannung aus in Xinjiang. Die chinesische Regierung verteidigt vehement die restriktive Politik in der Region: Sie sei der Grund, dass die Situation dort aktuell ruhig sei. Und in Zukunft könnte Chinas Mammutprojekt, die Neue Seidenstraße, zu weiteren Problemen führen, denn sie führt durch Xinjiang.

Nach der Nachricht über den Tod seiner Mutter hat Isa zum ersten Mal seit über einem Jahr wieder seine Verwandten in Xinjiang angerufen. Es ging aber niemand ran. (Anna Sawerthal, 5.9.2018)