Ein Familiendrama über häusliche Gewalt ist für Xavier Legrand das Äquivalent der griechischen Tragödie in der Gegenwart.

Foto: AFP / François Guillot

Fast 15 Minuten wird im ersten Abschnitt des Films über das Sorgerecht des elfjährigen Julien verhandelt. Das Ergebnis des Schlagabtauschs: Der Sohn soll bei beiden Elternteilen aufwachsen können. Doch damit ist in Nach dem Urteil (Jusqu'à la garde) das Dilemma nicht aus der Welt, denn das wechselseitige Misstrauen lässt die Vereinbarung bald morsch werden.

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Xavier Legrands Langfilmdebüt ist ein engmaschig inszeniertes Sozialdrama, das sich mit zunehmender Eskalation immer mehr zu einem Thriller entwickelt. Seitdem er beim letztjährigen Filmfestival von Venedig mit dem Preis für die beste Regie ausgezeichnet wurde, ist der Franzose, der als Schauspieler begonnen hat, mit einem Mal auch als Regisseur etabliert.

STANDARD: Ihr Film spielt mit mehreren Gangarten. Er beginnt wie ein Gerichtsdrama, setzt dann aber mehr auf Suspense. Warum?

Legrand: Es schien mir der schlüssigste Weg, um sich dem Thema häusliche Gewalt anzunähern. Bei der Vorbereitung erkannte ich, dass die vergessenen Opfer, wenn es um das Sorgerecht geht, meist die Kinder sind. Ich habe viele betroffene Frauen getroffen, die mir aus ihrem Leben erzählt haben, von Angst und Schrecken. Zu Beginn wähnt man sich daher noch in einem Sozialdrama wie Kramer gegen Kramer, dann kippt der Film unbemerkt in ein anderes Genre.

STANDARD: Häusliche Gewalt war schon in Ihrem Oscar-nominierten Kurzfilm Thema. Was fesselt Sie daran so sehr?

Legrand: Eigentlich wollte ich ein Theaterstück schreiben. Ich habe ein Faible für die griechische Tragödie und mich gefragt, was dafür das heutige Äquivalent sei. Es geht ja immer um Familienangelegenheiten, um Blutfehden, Rache und Ehre, und häusliche Gewalt erschien mir der Bereich zu sein, wo sich diese Dinge heute abspielen. Man nennt das Familiendrama, aber es ist auch ein Ort, an dem Morde geschehen. Außerdem bin ich als Bürger darüber schockiert, dass in Frankreich alle zweieinhalb Tage eine Frau ermordet wird – darauf wollte ich reagieren.

STANDARD: Der von Denis Ménochet gespielte Vater gleicht einem Kater, der unbedingt eine Maus fangen will. Ständig in Bewegung, um den Wohnort der Familie aufzuspüren, zieht er dabei immer engere Kreise.

Legrand: Häusliche Gewalt erschien mir als genau so ein intimer Kreis, aus dem Menschen nicht herausfinden. Die Realität der Menschen ist darin eingeschlossen. Ich wollte nur wenige Settings verwenden, damit der Zuschauer eine große Nähe zu den Figuren und deren Beziehungen einnehmen kann. Es ist wichtig, dass man sich in den Räumen zurechtfindet und den Bewegungen der Figuren instinktiv folgen kann. Und es musste so viel wie möglich in Echtzeit passieren, die Spannung sollte weniger dem Schnitt als der Kontinuität beim Dreh entspringen.

STANDARD: Der Vater ist schnell aggressiv, die Mutter dagegen agiert äußerst defensiv. Wollten Sie eine Gewaltspirale zeigen, der man sich nicht entziehen kann?

Legrand: Diese Sichtweise kommt immer auch auf den Zuschauer an. Es gab Menschen, die von Anfang an Position gegen die Frau bezogen haben und sie allzu verschlossen fanden. Meine Intention war, dass die Situation vieldeutig bleibt. Wer hier recht hat oder schuldig ist, darum ging es nicht. Außerdem sind Filme mit Kinderdarstellern immer geheimnisvoll, weil es oft nicht klar ist, wie man zu dem Punkt kommt, zu dem man kommen will. Die angespanntesten Szenen zwischen Vater und Sohn im Auto oder ein Close-up, in dem alles sich im Gesicht des Kindes widerspiegelt, sind Ergebnisse eines Prozesses, bei dem man Dinge austestet.

STANDARD: Betrachten Sie "Nach dem Urteil" auch als politischen Film? Etwa so, wie Ken Loach für eine Sensibilisierung kämpft?

Legrand: Das ist er schon deshalb, weil es sich um eine soziale Auseinandersetzung handelt. Es gibt ja Gesetze, die solche Fälle regeln. Und es gibt Mentalitäten, die durch bestimmte Verhaltensmuster hervorgebracht wurden. In Frankreich sagt man zum Beispiel gar nicht häusliche Gewalt, sondern "Gewalt unter Paaren". Der Begriff tut so, als wäre die ganze Angelegenheit nur eine Sache zwischen zwei Menschen. Man vergisst darüber, dass jemand, der ein schlechter Partner ist, immer noch ein guter Elternteil sein kann. Auch das zeigt, wie sehr Kinder in diesen Situationen vergessen werden. Mir geht es darum, diese Lage zu reflektieren. Vielleicht hilft es sogar, dazu beizutragen, dass sich etwas zum Besseren verändert. (Dominik Kamalzadeh, 6.9.2018)