90 Prozent der Exponate des Nationalmuseums sind bei dem Brand vernichtet worden.

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Der Schädel von "Luzia", der "ersten Brasilianerin", hat 11.000 Jahre überstanden – nun hat ihn das Feuer zerstört.

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Ägyptische Mumien, Meteorite, der 11.000 Jahre alte Schädel der brasilianischen Urmutter "Luzia", eine der umfangreichsten Sammlungen von Flugsauriern weltweit und hunderte Artefakte der indigenen Ureinwohner: All das wurde im sechs Stunden andauernden Feuerinferno der Nacht zum Montag im Nationalmuseum von Rio de Janeiro vernichtet.

Hunderte trauende Cariocas, wie die Einwohner Rios heißen, versammelten sich Anfang der Woche am Unglücksort und bildeten eine Menschenkette aus Protest gegen die Behörden, die im Zuge des Sparprogramms und der Finanzkrise des Bundesstaates Rio de Janeiro die Unterhaltskosten für das Museum um die Hälfte gestrichen hatten. Rund ein Drittel der Ausstellungsräume war wegen Renovierungsarbeiten geschlossen. Schon vor Jahren warnten Experten, die freiliegenden Kabel und die schlecht isolierte Strominstallation seien eine Zeitbombe. Passiert ist nichts.

Erschwert wurden die Löscharbeiten dadurch, dass die nahegelegenen Hydranten kein Wasser hatten und die Feuerwehr die Flüssigkeit über mehrere Kilometer per Zisternenwagen ankarren musste und sogar versuchte, einen nahegelegenen See anzuzapfen. Dutzende Passanten, die gekommen waren, um Ausstellungsstücke aus dem Flammeninferno zu retten, mussten zudem in Schach gehalten werden. Die Ursache für den Brand, der am Sonntag nach Schließung des Museums ausgebrochen war, ist bisher unklar.

"Glanz mit Problemen"

Als Museumsdirektor Alexander Kellner aus Anlass des 200. Geburtstags des "Museu Nacional" im Juni zum Gespräch in seinem Büro empfing, berichtete er, welche Wand des ehemaligen Kaisersaales die am schlechtesten erhaltene sei. Vor diese hatte der Sohn einer Österreicherin und eines Deutschen seinen Schreibtisch gestellt. Auf dem Tisch in der Mitte des Raumes lag ein Stück Holz, keine Dekoration, sondern eine Demonstration: Es war von einer Decke gefallen. Kellner sprach von "Glanz mit Problemen" und davon, dass man den Glanz zeigen müsse, aber die Probleme nicht verstecken dürfe. Der 56-Jährige ist in Vaduz geboren, übersiedelte schon als Kind mit seinen Eltern nach Brasilien und wurde dort zum renommierten Flugsaurierforscher.

Unermesslicher Verlust

Demnächst sollte das Museum eine Finanzspritze der brasilianischen Entwicklungsbank bekommen. Kellner hatte damit ausgerechnet den Brandschutz verbessern wollen. Doch das Feuer ist ihm zuvorgekommen. Der Verlust ist unermesslich. Es ist weniger, als ob in Paris der Louvre abgebrannt wäre, sondern eher so, als ob in London der Buckingham Palace und das British Museum zerstört worden wären. Im Jahr 1818 gegründet, ist das Nationalmuseum eine der ältesten wissenschaftlichen Einrichtungen Brasiliens und das älteste naturkundliche Museum Lateinamerikas gewesen. Dabei hatte es eine enge Verbindung zur deutschsprachigen Welt.

Einst hatte das Gebäude als Palast für die königliche portugiesische und kaiserliche brasilianische Familie gedient. Hier lebte und starb die Erzherzogin Maria Leopoldine, die österreichische Kaiserin Brasiliens. Die Habsburgerin heiratete 1817 den Thronfolger der portugiesischen und brasilianischen Monarchie, den späteren Kaiser Pedro I. Die königliche portugiesische Familie war 1807 vor Napoleon nach Rio geflüchtet. Pedros Vater Dom João VI. hatte die Museumssammlung ins Leben gerufen, die von seinen Nachfolgern ausgebaut wurde. Dona Leopoldina galt als sehr gebildet und interessierte sich für Physik, Astronomie, Botanik und Mineralogie.

Mit Leopoldina kamen österreichische und bayerische Wissenschafter wie Johann Natterer, Carl von Martius und Johann von Spix nach Brasilien. Sie wurden von Österreichs Kaiserhaus finanziert, erkundeten das Land und arbeiteten unter anderem auch für das Museum. Teilweise sind ihre Objekte im Naturhistorischen Museum, teilweise im Weltmuseum in Wien aufgegangen.

Bis vor kurzem waren auch Leihgaben aus der biologischen Sammlung des brasilianischen Nationalmuseums im Naturhistorischen Museum zu Forschungszwecken in Wien. Die Exponate wurden zwar vor dem Brand wieder retour geschickt, sind aber seit 2007 in einem der Nebengebäude auf dem Gelände des Museums untergebracht und deshalb nicht verbrannt. Insgesamt sind allerdings 90 Prozent des Museumsbestandes vom Feuer vernichtet worden, schätzt die Vizedirektorin Cristina Serejo. Von einer Katastrophe sprach der zweite stellvertretende Museumsdirektor Luiz Fernando Dias. "200 Jahre Erinnerung, Wissenschaft, Kultur und Bildung sind verloren wegen fehlender Unterstützung und mangelnden Bewusstseins unserer Politiker."

Ein für alle offener Ort

Dem Feuer zum Opfer gefallen ist auch eines der bekanntesten Stücke: "Luzia", ein brasilianischer Archäologie-Schatz aus dem Bundesstaat Minas Gerais und das mit mehr als 11.000 Jahren älteste in Lateinamerika gefundene menschliche Skelett. Bei "Luzia" handelt es sich Archäologen zufolge um die Überreste eines der ersten Einwanderer Südamerikas. Eine digitale Rekonstruktion ihres Gesichts hat ergeben, dass sie nicht zu den asiatischen Einwanderern gehörte, die man für die ersten Menschen in Amerika gehalten hatte. So entstand die These einer früheren, bis dahin unbekannten Einwanderungswelle.

"Luzia" ist auch deshalb von so großer Bedeutung, weil sie als "erste Brasilianerin" gilt. Damit verbunden ist die immer wiederkehrende Frage: Wie soll Brasilien, das "Land der Zukunft", eine Zukunft haben, wenn es seine Vergangenheit nicht ehrt? Viele Bewohner Rio de Janeiros, die sich eine gute, aber teure Privatschule oder einen Flug nach Paris oder Rom nicht leisten konnten, sind als Ersatz in das Nationalmuseum gegangen. Für sie bot es eine Möglichkeit, eine Mumie zu sehen oder ein Foto mit einem Dinosaurier zu machen. Das Nationalmuseum ist eine öffentliche Einrichtung im Sinne von "offen für alle" gewesen, es war wie der Strand einer der wenigen demokratischen Orte Rio de Janeiros. (Sandra Weiss, Martina Farmbauer aus Rio de Janeiro, 5.9.2018)