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Einweihung einer Eisenbahnstrecke in den USA (undatiert). Die Verkehrsrevolution brachte auch Krankheiten und neue soziale Probleme in ländliche Regionen – mit bemerkenswerten Folgen.

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Der historischen und wirtschaftswissenschaftlichen Forschung gibt das Phänomen seit Jahrzehnten Rätsel auf: Im 19. Jahrhundert kam es in fast allen aufstrebenden Industrieländern zu einer Abnahme der durchschnittlichen Körpergröße und der Lebenserwartung, obwohl die Wirtschaft wuchs und das Einkommen pro Kopf stieg. Dieses sogenannte Einkommen-Körpergröße-Paradoxon, im US-amerikanischen Sprachraum als "Antebellum Puzzle" bekannt, hat schon für zahlreiche Erklärungsversuche gesorgt. Belege sind allerdings schwer zu erbringen.

Nun legt Ariell Zimran von der Vanderbilt University in Nashville, Tennessee, eine Untersuchung vor, die auf einer vergleichsweise stabilen Grundlage steht. Der Ökonom analysierte die Jahrzehnte vor dem Amerikanischen Bürgerkrieg, in denen sich der paradoxe Effekt besonders deutlich ausdrückte: Im Zeitraum von 1820 und 1860 wuchs der Wohlstand in den USA deutlich – doch die Menschen wurden kränker. Die Hauptursache, die Zimran dafür identifiziert: der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur.

Militärischer Datenschatz

Die Annahme, dass sich die steigende Mobilität zunächst negativ auf die Gesundheit ausgewirkt haben könnte, ist nicht neu. So könnten etwa Infektionskrankheiten durch bessere Verkehrsverbindungen schneller und weiter verschleppt worden sein. Zudem nahm die soziale Ungleichheit im Zuge der rasanten Urbanisierung zu, gleichzeitig stiegen die Preise für proteinreiche Nahrung zu dieser Zeit.

Zimran untermauert nun aber erstmals anhand umfangreicher empirischer Daten, dass der verbesserte Zugang zu Märkten durch Eisenbahn und Binnenschifffahrt in Zusammenhang mit dem Rückgang der Körpergröße der US-Bevölkerung im 19. Jahrhundert stehen dürfte: In sein Modell fließen Daten von 25.567 Rekruten der Union Army ein, die zwischen 1820 und 1850 in ländlichen Regionen im Nordosten und im Mittleren Westen der USA geboren wurden. Der Ökonom kombinierte die Armeeverzeichnisse, die Größe, Alter, Geburtsort und Gesundheitszustand eines jeden Soldaten umfassten, mit einer akribischen Rekonstruktion der Infrastruktur ihrer Herkunftsregionen in den Jahrzehnten vor dem Bürgerkrieg.

Einen Zentimeter kleiner

Im nächsten Schritt kartierte Zimran alle neuen Wasserstraßen und Eisenbahnstrecken und den Wandel der ökonomischen Verbindungen der ländlichen Regionen mit Städten und Häfen. Zudem wurden auch die landwirtschaftliche Produktionsleistung sowie die Bevölkerungsentwicklung der jeweiligen Gebiete in Zimrans Modell berücksichtigt. Die Auswertung ergab einen signifikanten Zusammenhang: je besser die Verkehrsanbindung der Herkunftsorte der Soldaten, desto geringer ihre Körpergröße – um bis zu einen Zentimeter.

Das stütze die Hypothese, dass die Menschen durch die "Transportrevolution" mehr Krankheiten und mehr Luft- und Wasserverschmutzung ausgesetzt waren, während sich der Nahrungsmittelzugang für Ärmere verschlechterte, schreibt Zimran in seiner Arbeit für die Nationale Agentur für Wirtschaftsforschung, eine Nonprofit-Forschungsorganisation mit Sitz in Cambridge, Massachusetts. Für ihn sind die Ergebnisse eine Warnung für unser Zeitalter, dass Wirtschaftswachstum nicht zwangsläufig den Lebensstandard der Bevölkerung hebt. "Der Ausbau von Infrastruktur bringt klare wirtschaftliche Vorteile, kann aber auch unbeabsichtigte negative Folgen für das Wohlergehen der Menschen haben." (David Rennert, 5.9.2018)