Frage:

"Wir haben das Glück, dass wir in der Früh grundsätzlich wenig zeitlichen Druck haben. Wir stehen um sieben Uhr auf, frühstücken gemeinsam, und jeder macht sich für den Tag fertig. Um halb neun sollten wir dann aus dem Haus kommen, aber unser fünfjähriger Sohn zögert jeden Morgen das Anziehen und Zähneputzen endlos in die Länge. Er trödelt, wir schimpfen – letztlich sind wir dann alle gestresst und fangen an zu schreien. Es klingt absurd, aber es ist fast ein Ding der Unmöglichkeit, ohne Streit gemeinsam das Haus zu verlassen. Was läuft da schief? Wie finden wir aus dieser ärgerlichen Spirale wieder raus?"

Bild nicht mehr verfügbar.

Wenn Kinder am Morgen trödeln, fällt es oft schwer, Ruhe zu bewahren.
Foto: Getty Images/RoBeDeRo

Antwort von Katharina Weiner:

Meine ersten Gedanken beim Lesen Ihrer Frage sind, ob die Streitigkeiten plötzlich aufgetaucht sind und ob es in diesem Zusammenhang vor kurzem besondere Ereignisse gab, etwa einen Wechsel der Betreuungspersonen im Kindergarten oder Streit mit dem besten Freund, Stress in der elterlichen Beziehung, einen Umzug oder ähnliches.

In unserem morgendlichen Ritual liegt der Fokus naturgemäß auf den Prioritäten der Erwachsenen. Während wir in Gedanken bereits aus dem Haus sind, hat Ihr Sohn aus seiner Sicht gerade Wichtigeres zu tun, als sich zum Weggehen fertig zu machen. In den seltensten Fällen stimmen unsere Wünsche mit denen unserer Kinder überein.

Fragen Sie Ihren Sohn in einer entspannten Zeit, ob er eine Idee hat, wie Sie ohne zu streiten das Haus verlassen können. In etwa so: "Weißt Du, mich stresst es furchtbar, wenn wir uns in der Früh streiten. Was würde Dir helfen, damit wir es rechtzeitig schaffen?" So es Ihnen gelingt, Ihrem Kind mit ehrlichem Interesse und Offenheit zu begegnen, werden Sie überrascht sein, wie einfach sich gemeinsame Lösungen finden. Lösungen, bei denen beide Seiten ihre Selbstachtung bewahren und die generelle Kooperationsbereitschaft des Kindes nicht überstrapaziert wird. Auch wenn ein ausgesprochener Wunsch nicht sofort erfüllt wird, so kann dennoch seinem Bedürfnis nach "gesehen und gehört werden" nachgekommen werden. Die positive Wirkung dessen ist weitaus gewichtiger als eine schnelle, möglicherweise konfliktfreie Lösung. Sollte er keine Antwort parat haben, bitten Sie ihn um seine Mithilfe, die Zeit im Auge zu behalten. Am besten eignet sich dafür eine Sanduhr mit entsprechender Länge. Sobald hier die Zeit abgelaufen ist, müssen allerdings auch Sie bereit sein. (Katharina Weiner, 11.9.2018)

Katharina Weiner ist Familienberaterin, Coach und arbeitet als Trainerin in der Elternbildung. Die Mutter einer Tochter leitet das Jesper-Juul-Familylab in Österreich.
Foto: Sven Gilmore

Antwort von Hans-Otto Thomashoff:

Das ist ein schönes Alltagsbeispiel, an dem sich wunderbar die praktische Anwendung von Hirnforschung auf die Kindererziehung und auf das menschliche Miteinander insgesamt veranschaulichen lässt. Unsere Gefühle entstehen in einem recht alten Gehirnabschnitt, schnell und mächtig. Das hat zur Folge, dass der Verstand in den Hintergrund tritt, sobald sie hochkochen. Wir alle kennen das von den wilden Verwirrtheiten des Verliebtseins, aber eben auch vom fehlenden kühlen Kopf in der Wut. Die daraus abzuleitende Regel für den Alltag lautet: Man muss das Eisen schmieden, solange es kalt ist.

Der Streit mit dem Fünfjährigen am Morgen bringt uns also keinen Schritt weiter. Sondern wir sollten uns am Nachmittag, wenn sich die Wogen geglättet haben, mit ihm hinsetzen und versuchen, die Sache zu klären. Kann er uns erklären, warum er morgens so lange braucht? Ist er morgens hundemüde, weil er zu wenig Schlaf bekommt? Braucht er einfach länger? Geht er nicht gerne in den Kindergarten? Gibt es vielleicht eine Belohnung, auf die wir gemeinsam hinarbeiten können, um der morgendlichen, verschlafenen Motivation auf die Sprünge zu helfen?

Wenn das alles nichts bringen sollte, steht immer noch die Tatsache im Raum, dass auch wir Eltern Bedürfnisse haben, etwas, das ganz normal ist und doch heutzutage gerne vergessen wird. Und das kann bedeuten, dass wir und Sohnemann unterschiedlicher Meinung sein können, will heißen, dass wir uns erlauben uns durchzusetzen, selbst wenn das gelegentlich zu einem Streit führt. Denn auch eine weitere Tatsache wird heutzutage gerne verdrängt: Streit kommt in den besten Familien vor. Und auch Streiten will und muss gelernt sein. (Hans-Otto Thomashoff, 11.9.2018)

Hans-Otto Thomashoff ist Psychiater, Psychoanalytiker, zweifacher Vater und Autor. Zuletzt veröffentlichte Bücher: "Das gelungene Ich" (2017) und "Damit aus kleinen Ärschen keine großen werden" (2018).
Foto: Alexandra Diemand

Antwort von Olivera Stajić:

Beim Lesen der Frage, dachte ich zu zuerst, "ach, das sind die gleichen Voraussetzungen, wie bei uns". Doch nachdem ich zu Ende gelesen habe, wurde mir klar, dass wir einen Schritt weiter sind. Unser "großer" Vierjähriger hatte und hat auch Tage, an denen er es uns schwer macht, um halb 9 (nur selten muss es früher sein) die Wohnung zu verlassen. Allerdings sind Tage an denen wir alle gestresst und erschöpf das Haus verlassen seltener geworden.

Entspannt hat sich alles etwas, als wir aufgehört haben, unbedingt darauf zu bestehen, dass er sich selbst anzieht und auch sonst eine bestimmte Reihenfolge im Morgenritual einhält. Was ihm nämlich in der Früh ganz wichtig ist, ist eine Runde Spiel oder noch einmal die Geschichte vom Abend vorgelesen zu bekommen (= noch eine Runde kuscheln). Wenn er das haben kann, dann passiert der Rest auch meinst ohne Stress.

Dass es besser klappt, wenn er zuerst das macht, was zu seinem persönlichen Morgenritual dazugehört, haben wir durch die Veränderung der Familien-Situation herbeigeführt. Er hat seit einem Jahr einen jüngeren Brüder, der in der Früh auch Aufmerksamkeit (frische Windel, Frühstück, Spiel) braucht. Seitdem wir unsere Aufmerksamkeit teilen müssen, sind wir alle entlastet. Das mag jetzt paradox klingen, aber bei uns funktioniert es nun immer besser. Der große hat nun Zeit für seinen Teil des Rituals: das Spiel

Ihnen rate ich jetzt natürlich nicht zu einem weiteren Kind ;). Aber vielleicht, gibt es etwas, was ihr Kind braucht, damit es seine eigene Morgenroutine entwickeln kann. (Olivera Stajić, 11.9.2018)

Olivera Stajić ist STANDARD-Redakteurin und Chefin vom Dienst. Die ehemalige Ressortleiterin von daStandard.at ist Mutter von zwei Söhnen.
Foto: Matthias Cremer