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"Sei du selbst." Die Rhetorik der Selbstbestimmung hat es in die Werbung geschafft. Der Slogan für Schönheits-OPs "Meine Dinger, mein Ding" hat Dagmar Pauli den Anstoß für ihr Buch gegeben.

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Dagmar Pauli: "Size Zero. Essstörungen verstehen, erkennen, behandeln". € 16,95, 222 Seiten, C.-H.-Beck-Verlag, München 2018

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Dagmar Pauli ist Chefärztin an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich und Präsidentin des ExpertInnennetzwerkes Essstörungen Schweiz.

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Dagmar Pauli nimmt in ihrem Buch über Essstörungen ein gesellschaftliches Umfeld, in dem zwanghaftes Essverhalten gedeiht, kritisch in den Fokus – seien es Wettbewerbe via Instagram unter dem Titel "Thigh Gap" (Oberschenkellücke) oder das inzwischen selbstverständlich gewordene digitale "Verdünnen" ohnehin schon sehr schlanker Models, "Essstörungen junger Menschen entstehen auf dem Nährboden der gesellschaftlichen Essstörungen", schreibt Pauli. Die Ärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie verknüpft konkrete Geschichten von Patientinnen mit Essstörungen und Tipps, wie Eltern Magersucht vorbeugen können, mit einer kritischen Analyse der strikten gesellschaftlichen Regeln, wie vor allem Frauen und Mädchen auszusehen hätten.

STANDARD: Sie thematisieren in Ihrem Buch neue Medien, durch die Druck verbreitet wird, dünn zu sein. Wie ist das Verhältnis zwischen inneren und solchen äußeren Faktoren bei der Entstehung einer Essstörung?

Pauli: Diese Frage kann man nicht mit Prozentzahlen beantworten. Bei dem größten Teil der Essstörungen, die es heute gibt, ist die gesellschaftliche Essstörung der Nährboden, der die Störung überhaupt möglich macht. Umgekehrt gilt aber auch, dass ohne innere Auslöser niemand eine Essstörung bekommt – nur weil überall dünne Models zu sehen sind, entwickelt man noch keine Essstörung. Dazu gehören auch Verletzlichkeiten wie übertriebener Perfektionismus, geringes Selbstwertgefühl, soziale Schwierigkeiten, ein Trauma oder zwanghaftes Verhalten – wenn es nichts dergleichen gibt, dann gibt es auch keine Essstörung. Ohne eine innere Disposition kommt es also nicht zu einer Essstörung, äußere Faktoren können sie aber befeuern.

STANDARD: Ein verstärkender Effekt ist auch, Mädchen zu sein. Seit ein paar Jahren ist Feminismus als Thema im Mainstream angekommen. Die Körperbilder bleiben davon aber weitgehend verschont.

Pauli: Nicht ganz, es gibt ja Bewegungen in den sozialen Medien, in denen etwa auf TV-Formate wie "Germany's Next Topmodel" mit Kampagnen wie "Not Heidis Girl" reagiert wird. Aber grundsätzlich sehe ich es auch so, dass ein Umdenken noch nicht stattgefunden hat, jedenfalls nicht in der Mode-Glamour-Welt und in der Werbe- und Filmindustrie, also auch nicht im öffentlichen Bewusstsein. Das hat auch damit zu tun, dass in der heutigen Gesellschaft Frauen noch in einer deutlich schwächeren Position sind. Eine Frau ohne perfekte Figur bekommt einfach keine Rolle, ist kein Model – ist ein Nichts und Niemand. Dass eine mal barfuß über einen roten Teppich läuft, um gegen eine Kleiderordnung mit Highheels zu protestieren (wie Kristen Stewart bei den Filmfestspielen in Cannes, Anm.), das findet man vielleicht noch cool. Aber sich völlig zu verweigern, sei es gegenüber Brust-OPs, Faltenglättungen oder eben einer Modelfigur – das geht in der Mode- und Filmwelt nicht. Und dies sind ja die Vorbilder, an denen sich vor allem junge Menschen orientieren.

STANDARD: Sie schreiben, die heutigen Jugendlichen wachsen mit Eltern auf, die ebenso dem Ideal eines sehr schlanken Körpers seit jeher ausgesetzt sind. Verstärkt sich demnach das schwierige Verhältnisse zum Essen immer mehr?

Pauli: Ja, ich verwende dafür den Begriff Zweitgenerationeneffekt. In den Familien sind Gesundheit, Diät, Schlankheit und Sport Riesenthemen. Und es gibt unzählige Frauen, die nicht ihrem eigenen Schönheitsideal entsprechen und sich deshalb schlecht fühlen – es gibt also schon eine ganze Generation, die mit dieser Unzufriedenheit lebt. Viele Mütter schauen heute bei ihren Kindern sehr viel früher, dass diese nicht übergewichtig werden. Wenn die Kinder nur ein bisschen stämmiger sind, beginnen schon die Sorgen. Das Kind wird gewarnt, und es wird von gesundem Essen gesprochen. So geben sie den Kindern permanent das Gefühl, es ist schlecht, so wie es ist. Neueste Studien zeigen, dass sich in Deutschland schon über 60 Prozent der Mädchen ab zehn Jahren nicht gut finden, so wie sie sind – im Sinne von zu dick.

STANDARD: Ein dünner Körper wurde spätestens seit dem Model Twiggy in 1960er-Jahren zum Ideal, wie Sie schreiben. Wie sollen Mütter ihren Töchtern heute ein Vorbild sein?

Pauli: Wir müssen uns erst einmal dessen bewusst sein, wie sehr wir dahingehend geprägt sind. Wenn wir bemerken, dass wir das Essverhalten des Kindes innerlich schon etwas problematisieren, wenn es einen gesunden Appetit hat und nicht gertenschlank ist, hält uns das vielleicht schon ab, es dem Kind gegenüber unreflektiert zu thematisieren. Gesundes Essverhalten heißt, dass man die Genussaspekte über die Diät- oder Gesundheitsaspekte stellt. Gesundes Essverhalten heißt auch regelmäßiges gemeinsames Essen, das Spaß macht und selbst zubereitet wird. Bei nicht massiv übergewichtigen Kindern sind keine weiteren Maßnahmen notwendig. Wer den Eindruck hat, das Kind isst zu viel Süßigkeiten, sollte einfach nicht viel Süßigkeiten daheim haben, aber sie nicht verbieten. Durch ein Verbot wird nur noch mehr Lust am Süßen erzeugt. Im Prinzip kann man auf das natürliche Gefühl der Kinder vertrauen, dass sie wissen, was sie brauchen, wenn man ihnen nicht zu viel Süßigkeiten anbietet. Wenn man Kinder ständig warnt, nicht zu viel zu essen, und wenn sie das Gefühl kriegen, nicht genug zu bekommen – erst dann wollen sie mehr essen, als sie eigentlich brauchen.

STANDARD: Ernährung ist ein extrem wichtiges Thema geworden. Wie kann man unterscheiden, ob es sich im Grunde um schnöde Schlankheitstipps handelt oder um gute Tipps für gesunde und ökologische Ernährung?

Pauli: Man kann gar nicht alles befolgen, was zu gesunder Ernährung geschrieben wird, sonst könnte man gar nichts mehr essen. Eine ausgewogene Ernährung genügt, nicht zu viel Süßes, nicht zu viel Fett, selber kochen und ausgewogen von allem essen – das sollte reichen, man braucht sich keine Gedanken über Fettsäuren oder die Ernährungspyramide machen. Frauen und immer mehr auch Männer machen sich viel zu viele Gedanken darüber, und der Gesundheits- und Schlankheitsaspekt vermischen sich. Bei Jugendlichen kann eine Essstörung damit anfangen, gesund und vegetarisch essen zu wollen – auch weil sie es von den Eltern oder sonst im Umfeld hören. Wenn sie dann merken, dass sie darüber abnehmen können und die Selbstwahrnehmung haben, ich bin eh zu dick, betreiben sie das unter Umständen exzessiv weiter. Es kann also einen nahtlosen Übergang von gesundheitsbezogenen oder ökologischen Argumenten zu Schlankheitswahn und Magersucht geben. Wenn Mädchen ankündigen, mal vegetarisch oder vegan essen zu wollen, sollte man gut beobachten, ob sie trotz dieser Ernährungsumstellung das Gewicht halten.

STANDARD: Ist es angesichts der gängigen Körperideale nicht sehr schwer, Magersüchtige zu behandeln?

Pauli: Mädchen halten an Essstörungen oft sehr stark fest. Sie finden, sie hätten endlich mal was geschafft – im Sinne von: "Ich war so pummelig, und jetzt hab ich das Ideal unserer Gesellschaft erreicht." Es ist aus ihrer Sicht völlig unlogisch, dass man ihnen das wieder wegnehmen will, dass man sie wieder auffüttern will – überall sehen sie ja das Gegenteil, etwa bei extrem dünnen Models. Im Nachhinein sagen Magersüchtige oft, sie hätten so etwas wie einen krankhaften Stolz auf ihre Essstörung erlebt, dass sie sich besser als die anderen gefühlt hätten, die sich nicht so gut beherrschen konnten.

STANDARD: Das ist im Grunde eine realistische Einschätzung. Dicke Menschen werden ja laufend sehr herabwürdigend dargestellt.

Pauli: Ja, mit dem Übergewicht hat auch die Stigmatisierung von Übergewichtigen zugenommen. Dicke Kinder werde viele häufiger gemobbt. Assoziationsstudien, die die Fragen stellen "Woran denken Sie beim Wort dick?", zeigen auch, dass dann sofort faul, dumm, disziplinlos kommt.

STANDARD: Schlankheitsideale sind allgegenwärtig, gleichzeitig gilt Dicksein mehr denn je als Leiden der Industriestaaten. Hat das eine etwas mit dem anderen zu tun?

Pauli: Das ist paradox und hat gleichzeitig miteinander zu tun. In den letzten zehn Jahren ist die Zahl Übergewichtiger deutlich gestiegen, gleichzeitig stieg auch der Schlankheitsdruck. Das beeinflusst sich gegenseitig: Je dicker die Leute sind, desto mehr wird es problematisiert und von Diät geredet. Jugendliche werden mit falscher Prävention unter Druck gesetzt, etwa wenn im Kindergarten schon die Ernährungspyramide erklärt wird. Also je mehr Übergewicht, desto mehr nutzlose Diskussionen und Medienberichte sowie mehr Diätversuche – und als Nebenwirkung der Diäten noch mehr Übergewicht und auch mehr Essstörungen. (Beate Hausbichler, 9.9.2018)