Bild nicht mehr verfügbar.

Der Musikkonsument ist im digitalen Zeitalter nur in der Filterblase sein eigener Herr.

Foto: AP/Matt Weigand/The Ann Arbor News

Ein wesentliches Merkmal der Musik ist: Sie ist – etwa im Vergleich zur Bildhauerei – eine flüchtige Kunstform. Wird ein Klang produziert, ist er sogleich wieder verschwunden. "Musikwissenschaft war immer ein virtueller Gegenstand. Hier werden ja nicht Granit und Marmor behauen, sondern rhythmische Strukturen und Tonhöhen zueinander in Beziehung gesetzt", sagt Volkmar Klien vom Institut für Komponieren, Dirigieren und Computermusik der Anton-Bruckner-Privatuniversität in Linz.

Auf Notenblättern wurde Musik erstmals verewigt. Aufnahmetechniken und Tonträger folgten und ermöglichten den Aufstieg der Musik zum Massenkonsumprodukt. Die Digitalisierung erleichterte den Zugriff auf Musik noch mehr. Das wirkt sich aber auch auf die Produktion und Vorführung aus, berichtet Klien: "Der Augenblick ist im Zeitalter seiner datentechnischen Erfassbarkeit ein ganz anderer Gegenstand geworden. Das ändert alle Eckdaten kompositorischer Arbeit."

Durch die Digitalisierung habe sich die Produktion von Musik jedes Genres massiv gewandelt. Zahlreiche neue technische Innovationen stehen zur Verfügung, und die Zahl der Produzenten wächst: Ein Aufnahmestudio braucht es nicht mehr, Software reicht eigentlich schon.

Aber nicht nur für den Produzenten, auch für den Hörer ergeben sich neue Möglichkeiten: Mit einem Knopfdruck stehen ihm überall die gewünschten Lieder zur Verfügung. Auf Livemusiker, DJs oder Plattenhändler ist er endgültig nicht mehr angewiesen. Emanzipiert sich der Zuhörer damit von den traditionellen Institutionen der Verbreitung?

So idealistisch betrachtet Klien diese Innovation nicht: Die Sender-Empfänger-Situation im Danceclub oder im Radio sei zwar häufig hierarchisch, aber auch unterm Kopfhörer nicht sonderlich anders – dort regiert nämlich der Algorithmus. Auf digitalen Verteilerplattformen wie Spotify oder Youtube wirken zahlreiche Analyseprogramme, die dem Hörer aus seinem Konsumverhalten abgeleitete Vorschläge machen.

Dass sich durch digitale Strukturen die Konsumenten selbstbestimmt neuen Formen öffnen, bezweifelt der Linzer Klangforscher deshalb: "Diese Geschäftsmodelle zielen auf die Verstärkung von ästhetischen Strukturen und nicht auf deren Aufbrechung ab." Das gelte selbst für Hörer von Musik weit jenseits des Mainstreams: Auch damit bestätige der Konsument meist nur sein eigenes Selbstbild und das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gemeinschaft. Die Playlistvorschläge folgsam annehmend verlassen die meisten ihr akustisches Biotop nicht.

Herr in der Filterblase

Der Musikkonsument ist im digitalen Zeitalter also nur in der Filterblase sein eigener Herr. Klien spekuliert sogar, ob in Zukunft die Software in der Lage sein wird, rasch neue Musik zu produzieren, die auf das Geschmacksprofil des Nutzers zugeschnitten ist. Als Forscher wie als Komponist versucht er zu erkunden, wie sich in diesem Rahmen dennoch musikalische Werke schaffen lassen, die diese Strukturen unterlaufen. "Die Tradition der musikalischen Avantgarde ist es ja, Gewohnheiten aufzubrechen und neue Hörweisen zu etablieren. Die Mobiltelefone aber verfestigen nur den Kitt, anstatt ästhetische Brüche zu vergrößern. Mich als Klangkünstler interessiert, wie man digital neue Situationen schaffen kann und damit ursprüngliche Wahrnehmungen wieder möglich werden."

Die Schwierigkeit sei dabei, dass Musik für den Menschen eine wichtige soziale Rolle erfülle: Sie verstärke im täglichen Gebrauch das Geborgenheitsgefühl des Einzelnen. "Hier im Dienste der Reflexion etwas auszuhebeln bedeutet, das Glücksgefühl, das Musik erzeugt, zu zerstören – darauf wollen sich nicht viele einlassen."

Klien hat dazu bereits verschiedene Experimente durchgeführt – etwa in Form von Konzerten für eine Person. Jedoch betont Klien, dass es sich dabei nicht um empirische, sondern um künstlerische Forschung ohne standardisierte Methoden handelt.

Aber auch die Naturwissenschaft bezieht Klien in seine Arbeit mit ein: Vor zwei Jahren ließ er auf der Ars Electronica ein großes Pendel schwingen, koppelte die Gravitationsbewegungen am Computer mit mathematischen Modellen und erstellte davon ausgehend neue Kompositionen.

Auf diesem Festival ist Klien auch heuer wieder präsent. Er veranstaltet ein Symposium, bei dem es auch um die Autorschaft im Zeitalter der digitalen Klänge gehen soll. Schließlich lautet eine Frage, die Musikwissenschafter wohl noch länger umtreiben wird: "Wenn man mit einer Software Musik erzeugt, liegt dann die Urheberschaft beim Komponisten oder auch beim Ingenieur, der den Code des Programms geschrieben hat?" (Johannes Lau, 8.9.2018)