Thomas Macho, "Das Leben nehmen. Suizid in der Moderne". € 28,- / 532 Seiten. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2018

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Die Zahlen sind erschreckend: Laut WHO sterben weltweit jedes Jahr mehr Menschen durch Selbstmord als durch Kriege und Gewalttaten. In Deutschland setzten 2015 sogar mehr Menschen ihrem Leben ein Ende, als durch Verkehrsunfälle, Morde, Aids und illegale Drogen zusammen zu Tode kamen. Das Problem ist also enorm; dennoch erhält es in den Medien wenig Aufmerksamkeit. Das hat einen Grund, und der heißt "Werther-Effekt" – in Anspielung auf Goethes Roman und seine Folgen. Denn Berichte über Suizide, egal ob fiktiv oder real, regen fatalerweise zur Nachahmung an. Wie zuletzt 2009, als sich der Nationaltorhüter Robert Enke das Leben genommen hat. Wegen Enkes Prominenz berichteten die Medien damals ausführlich darüber – prompt stiegen die Suizidzahlen signifikant.

Keine Angst vor dem Werther-Effekt hatte Thomas Macho. Vermutlich baut der österreichische Kulturwissenschafter darauf, dass nur ein gefestigtes Publikum zu seiner neuen Studie greift – was hoffentlich auch der Fall sein wird. Denn mehr Selbstmorde als in diesem gewichtigen 500-Seiten-Band wurden wohl noch nie zusammengetragen: In einer manchmal etwas sperrigen Wissenschaftsprosa präsentiert Macho eine Fülle an Material, bestehend aus zahllosen Beispielen aus der Literatur-, Film-, Kunst- und Philosophiegeschichte.

"Zeitalter wachsender Suizidfaszination"

Machos Zusammenschau belegt eindrucksvoll, wie sehr die Menschen dieses Thema beschäftigte und beunruhigte, schon in der Antike und im Mittelalter, vor allem aber seit der Moderne. Heute, so Thomas Macho, befänden wir uns sogar in einem "Zeitalter wachsender Suizidfaszination", und die Frage nach dem Suizid sei ein "Leitmotiv der Moderne", dessen Aufstieg Prozesse der Relativierung vorausgegangen seien: Schritte der Entheroisierung, der Entmoralisierung, der Entkriminalisierung und zuletzt der Entpathologisierung des Suizids.

Es sind vor allem diese Prozesse, die den Kulturwissenschafter interessieren, also die Art und Weise, wie sich das Phänomen Freitod und seine Deutung von der Antike bis heute verändert hat. Fragen nach den Suizidmotiven oder -methoden, nach Ursachen oder Präventionsmöglichkeiten kommen in Machos Studie zwar vor, sind aber nur Nebenaspekte.

Bei seinen Streifzügen durch die Kulturgeschichte kommt Thomas Macho dabei immer wieder zu interessanten Beobachtungen: Der antike Märtyrertod zum Beispiel findet sich in der Moderne als Protestsuizid wieder. Man denke nur an die Selbstverbrennung des tunesischen Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi, die Ende 2010 den Arabischen Frühling auslöste. Und der Schülerselbstmord – Skandalthema nach 1900 und Lieblingssujet von Autoren wie Wedekind oder Hesse – kehrt heute in Form des Amoklaufs wieder, also quasi als erweiterter Selbstmord. Aber auch den romantischen Liebestod à la Romeo und Julia kann man in einem neuen Phänomen wiederfinden, dem sogenannten "Altersdoppelsuizid", so Macho, aus Angst vor einem allzu langen Leben, das womöglich in Krankheit, Behinderung oder Schmerz verbracht werden muss.

Debatten um das Recht auf Sterbehilfe

Die Zeiten, in denen der Suizid als Sünde, Verbrechen oder auch krankhaftes Verhalten galt, sind noch nicht allzu lange vorbei. Noch 1941 wurde in England eine Frau zum Tod durch den Strang verurteilt, weil sie eine Überdosis Schlaftabletten eingenommen hatte. Dahinter steht der Gedanke, dass das Leben einem nicht selbst gehöre, sondern, je nach Anschauung, den Eltern, Gott oder dem Staat. Eine Vorstellung, die nach Thomas Macho heute wiederkehre in den Debatten um das Recht auf Sterbehilfe.

In Deutschland ist ein versuchter Suizid als Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts heute straffrei, in der Schweiz erklärte ein Bundesgericht den Freitod 2006 sogar zu einem Menschenrecht. Vielleicht belegt nichts drastischer die "Umwertung" des Suizids in der Moderne als der Blick in die Philosophiegeschichte. Immanuel Kant verdammte schon das "Verpflanzen" eines Zahnes als einen "partialen Selbstmord". Im 20. Jahrhundert schlug Michel Foucault dagegen vor, Geschäfte zu gründen, in denen "aufmunternde Verkäufer" Sterbewillige über das Für und Wider einzelner Methoden aufklärten. Kompetente Beratung wäre nämlich die beste Suizidprävention, glaubte der Philosoph. (Oliver Pfohlmann, 9.9.2018)