"Schluss mit Lügen" forderten Aktivisten im Herbst 2015, als die Abgasschummelei bei VW aufflog. Betroffen sind VW-Aktionäre und elf Millionen Fahrzeughalter in Europa. Nun beginnt die Aufklärung vor Gericht.

Foto: AFP / John MacDougall

Schadenersatz wird der Musterprozess vor dem Oberlandesgericht Braunschweig seit Montag geschädigten VW-Dieselfahrzeughaltern nicht bringen. Denn im ersten großen VW-Verfahren drei Jahre nach Ausbruch der Abgasaffäre geht es um Volkswagen-Aktionäre, die sich durch die Nichtinformation des Wolfsburger Autobauers geschädigt sehen. Die Aktienkurse brachen ab Mitte September bis Anfang Oktober 2015 zeitweise um 40 Prozent ein, Milliarden an Börsenwert wurde vernichtet.

Allein von 17. bis 22. September 2015, dem Tag, an dem VW-Chef Martin Winterkorn offiziell einbekannte, dass unzulässigerweise eine "defeat device", also eine Abschalteinrichtung für die Abgasreinigung eingebaut wurde, habe der Verlust je VW-Stammaktie 56,20 Euro ausgemacht; Vorzugsaktien büßten gar 61,80 Euro an Wert ein.

Neun Milliarden Euro

Musterklägerin Deka Investments begehrt mehr als 200 Millionen Euro an Schadenersatz. Mehrere tausend ähnlich gelagerte Fälle sind in der Pipeline, ihre Verfahren wurden zurückgestellt, bis das sogenannte Kapitalanleger-Musterverfahren abgeschlossen ist. Machen sie ihre Ansprüche geltend, summieren sich die Schadenersatzforderungen auf gut neun Milliarden Euro.

Spielentscheidend für das Verfahren am Montag ist nicht das Aufspüren der Schuldigen der Abgasmanipulationen, sondern ein Datum. Wann hat wer in der Volkswagen AG gewusst, dass Abgasemissionswerte manipuliert wurden? Und hätte der börsennotierte Konzern seine Aktionäre über die Dieselaffäre viel früher informieren müssen?

Schuldfrage

Dabei spielt die Schuldfrage wohl eine zentrale Rolle, behauptet der Konzern doch stets, das für börsenrelevante Pflichtmitteilungen (ad hoc) zuständige Management habe vor dem 22. September 2015, dem Tag des Eingeständnisses, nichts gewusst von den Machenschaften der Ingenieure einige Etagen tiefer. Schon gar nicht sei der Abgasbetrug angeordnet gewesen. Zudem hätten die US-Behörden den Einsatz von defeat devices in anderen Fällen wohl mit Millionenstrafen belegt, dass die Causa im Fall VW derart ausarten würde, sei aber nicht absehbar gewesen. Daher habe man in Wolfsburg keinen Anlass gesehen, eine Ad-hoc-Meldung zu machen.


Wann wusste VW-Chef Martin Winterkorn von den Manipulationen bei Abgaswerten? Im Jänner 2016 musste "Mister VW", der angeblich jede Schraube im Auto kannte, zurücktreten.
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Allerdings mehren sich die Indizien, dass Winterkorn und der jetzige VW-Chef Herbert Diess bereits im Juli 2015 Bescheid wussten. Der Spiegel berichtete jüngst unter Berufung auf unveröffentlichte Unterlagen der Staatsanwaltschaft von einer internen Sitzung, in der die illegale Software Thema gewesen sei.

Wie groß der Erkenntnisgewinn im Anlegerverfahren sein wird, ist ungewiss. Denn Führungskräfte dürfen sich der Aussage entschlagen – auch um sich im kommenden Strafverfahren nicht zu belasten. Ihnen drohen ihrerseits Schadenersatzforderungen seitens Volkswagen.

Ermittlungsverfahren in Österreich

Für Besitzer von VW-, Audi-, Skoda- und Seat-Modellen mit Motoren der Baureihe EA189 und manipulierten Abgasreinigungssystemen in Österreich ist der Anlegerprozess dennoch von Bedeutung. Denn gelingt der Beweis, dass die VW-Führung Monate vor Bekanntgabe durch die US-Umweltbehörde EPA über die Abgasmanipulationen informiert war, ist das Munition für all jene, die ihren Diesel in den Monaten davor gekauft haben.

Die Zeit drängt: Am 8. Oktober 2015 hat VW betroffene Autobesitzer schriftlich über die Schummelei informiert. Daher verjährt Anfang Oktober der Anspruch auf Schadenersatz, sagt der mit VW-Klagen vertraute Anwalt Michael Poduschka. Danach kann nur mehr wegen Abgasbetrugs gegen die Volkswagen AG in Wolfsburg geklagt werden. Diesfalls können sich Geschädigte dem in Österreich bei der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft anhängigen Ermittlungsverfahren als Privatbeteiligte anschließen. (ung, Reuters, dpa, 9.9.2018)