Gegenkandidaten muss Amtsinhaber Sergej Sobjanin – auf dem Bild gemeinsam mit Parteifreund Wladimir Putin – nicht fürchten. Aber eine niedrige Wahlbeteiligung.

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Realen Machtverlust muss die Kremlpartei Einiges Russland bei den anstehenden Regionalwahlen nicht befürchten. Doch viele Bürger wollen der Obrigkeit einen Denkzettel verpassen und bleiben der Abstimmung fern.

Am 9. September sind Wahlen, erinnert der Bankautomat der staatlichen VTB seine Kunden. "Wenn Du Moskau liebst, geh zu den Bürgermeisterwahlen", werden die Klienten vom Bildschirm dazu aufgefordert, ihrer Bürgerpflicht nachzukommen. Vergessen kann den Termin wohl kaum ein Moskauer: Allerorten machen große Reklametafeln auf den Termin und einzelne Kandidaten aufmerksam.

Nicht nur Fernsehen und Internet, wo die Stadtregierung riesige Werbeblöcke in sozialen Netzwerken gekauft hat, sondern praktisch jeder Monitor in der Moskauer Metro verwandelte sich in ein Reklameschild für die Wahl und Bürgermeister Sergej Sobjanin. Die städtischen Einwohnermeldeämter verdonnerten ihre Angestellten zu Rundgängen in ihren Stadtteilen, um die Moskauer zur Wahl zu agitieren.

Stichwahl ausgeschlossen

Der Sieg von Sobjanin steht dabei außer Frage: Eine Überraschung wie vor fünf Jahren, als der Oppositionelle Alexej Nawalny trotz eines gegen ihn laufenden Gerichtsverfahrens und einer Schmutzkampagne starke 27 Prozent holte und den Bürgermeister fast in eine Stichwahl gezwungen hätte (Sobjanin holte 51 Prozent und vermied damit nur knapp einen zweiten Wahlgang), ist dieses Mal völlig ausgeschlossen.

Einerseits weil die Opposition inzwischen selbst so zerstritten ist, dass sie sich nicht auf einen Einheitskandidaten einigen konnte. Andererseits aber auch, weil die Stadtverwaltung beschloss, diesmal erst gar nichts zu riskieren und alle unkontrollierbaren Gegenkandidaten von vornherein ausschloss. Als Instrument diente der sogenannte munizipiale Filter, der es Kandidaten vorschreibt, sich vor der Registrierung mindestens 110 Unterschriften von Abgeordneten auf Stadt- oder Stadtteilniveau zu sichern. Da die Gremien alle von der Kreml-Partei Einiges Russland dominiert werden, fiel die außerparlamentarische Opposition durch.

Die in der Duma vertretenen Parteien schickten hingegen nur Statisten ins Rennen. So tritt für die Kommunisten beispielsweise nicht der relativ populäre Präsidentschaftskandidat Pawel Grudinin, sondern der weitgehend unbekannte Wadim Kumin an, der ebenso passiv im Wahlkampf ist wie die "Herausforderer" von LDPR, Michail Degtjarjew, und Gerechtem Russland, Ilja Swiridow. Mit Moskau haben alle diese Politiker nur wenig zu tun, können daher auch kaum auf Unterstützung rechnen.

Nur 32 Prozent 2013

Sobjanins Problem ist daher nicht der Sieg, sondern die Wahlbeteiligung: Im Wahlstab des Bürgermeisters hofft man auf 40 bis 50 Prozent. Doch Soziologen bezweifeln, dass er die Marke von vor fünf Jahren – damals waren es 32 Prozent – knackt.

"Wir gehen nicht", sagen Wjatscheslaw und seine Frau Swetlana, ein junges Paar um die 30, das trotz eines Kleinkinds eigentlich zu den Besserverdienenden in Moskau gehört. Wjatscheslaw zählt sich zu den Liberalen, doch solche Kandidaten gibt es in der Hauptstadt nicht, darum flüchtet er sich in Ironie: "Es ist alles so gut, dass wir fürchten, zufällig mit unserer Wahl etwas zu verändern", sagt er. Tatsächlich ist er unzufrieden mit der Bürokratie und Korruption, mit der zunehmenden Verkrustung der politischen Strukturen und den damit einhergehenden fehlenden sozialen Aufstiegsmöglichkeiten.

Sobjanins Problem sind allerdings nicht die Liberalen: Die Enttäuschung der konservativen Wähler über 50 ist ein viel größeres Handicap. Diese Wählerschicht hat stets eifrig für den Kreml gestimmt, doch nach der Rentenreform sind viele von ihnen vergrätzt. Direkt betroffen in den nächsten Jahren sind etwa 20 Millionen Russen, die sich nun zurückgesetzt sehen.

Anhaltende Unzufriedenheit

Die Proteststimmung ist zwar nach einem Hoch im Juli, wo über 50 Prozent der Befragten Massendemonstrationen für möglich und gerechtfertigt hielten, leicht gesunken, die Unzufriedenheit hält jedoch weiterhin an. Daran hat auch die Fernsehansprache von Wladimir Putin nichts geändert, der Ende August leichte Zugeständnisse machte, grundsätzlich aber die Erhöhung des Rentenalters bestätigte.

"Weil das Thema sozial äußerst wichtig ist, wirkt erstmals seit vielen Jahren der nationale Themenbackground direkt auf den Inhalt der regionalen Wahlkampagnen, politisiert das Verhalten der Wähler, sogar gegen den Willen der örtlichen Obrigkeit und oft gar der Kandidaten", heißt es in einem von den Politologen Alexander Kynew, Arkadi Ljubarow und Andrej Maximow vorgelegten Positionspapier zu den Regionalwahlen.

Präsentation als effizienter Manager

Tatsächlich versuchen landesweit die Kreml-Kandidaten – in 22 Regionen wird ein neuer Gouverneur bestimmt – bei den Regionalwahlen das Thema Pensionsreform zu umgehen, während zumindest in einigen Gebieten die Opposition eben damit zu punkten versucht. Auch in Moskau wird das Thema völlig unter den Tisch fallen gelassen. Selbst auf das Logo seiner Partei Einiges Russland, deren Image durch die Unterstützung der Pensionsreform in der Duma schwer gelitten hat, verzichtet Sobjanin weitgehend. Stattdessen lässt sich der Bürgermeister als effizienter Manager einer Millionenmetropole präsentieren.

Doch vergessen haben die Wähler die Pensionsreform nicht, und da die Russen Demonstrationen als zwecklos erachten, fällt der Protest eben still – durch Nichtbeteiligung an den Wahlen – aus. Die Polittechnologen im Stab Sobjanins haben schon Alarm geschlagen. Und so sollen wohl wieder administrative Ressourcen helfen: Angestellte des öffentlichen Dienstes werden so verstärkt zur Stimmabgabe gedrängt. Ein vor allem in den Regionen seit Jahren beliebtes Mittel zur Steigerung der Wahlbeteiligung, in Moskau wurde es bisher freilich dosiert angewendet. Nach Einschätzung des Politologen Ilja Graschenkow lässt sich die Beteiligung so um bis zu 20 Prozent steigern. Aber selbst damit würden in Moskau wohl nur 30 bis 35 Prozent erreicht, glaubt er. Echte Bürgerbeteiligung sieht anders aus. (André Ballin aus Moskau, 8.9.2018)