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Wenig Betrieb auf der Baustelle der neuen Moschee am Taksim-Platz in Istanbul. Private Bauunternehmer hätten 70 Prozent ihrer staatlichen Projekte gestoppt, gab der Branchenverband bekannt. Der Grund sind die durch Liraverfall und Inflation massiv gestiegenen Produktionskosten.

Reuters / Ümit Bektas

Eine kleine Tube Zahnpasta aus dem Ausland kostet plötzlich so viel wie ein Mittagsgericht im Restaurant. Und was ein leitender Polizeibeamter verdient, entspricht umgerechnet nur noch einem Praktikantengehalt von 500 Euro im Monat. Nichts ist mehr im Lot in der Türkei. 15 Jahre ununterbrochenes Wachstum mit zum Teil zweistelligen Zahlen sind vorbei. "Es ist zu spät, die Rezession noch zu stoppen. Die Fäulnis sitzt zu tief", sagt Atilla Yeşilada, ein Istanbuler Ökonom, der es sich leistet, die Finanzpolitik der Regierung offen zu kritisieren.

Das Land steuert mit zwei Geschwindigkeiten bergab. Knapp 18 Prozent hat die Inflation in der Türkei nun erreicht. Mehr als 40 Prozent büßte die Lira seit Jahresbeginn an Wert ein, 20 Prozent allein im August, als Donald Trump mit einem Mal die Geduld verlor und wegen eines amerikanischen Pastors Sanktionen gegen die Türkei zu verhängen begann. Importwaren sind deshalb massiv teurer geworden. Die Gehälter aber bleiben gleich.

Bauarbeiten gestoppt

Die Türken merken es im Drogeriemarkt bei einer Zahnpasta mit einem internationalen Markennamen ebenso wie bei Autos aus Europa oder Südkorea. Um 53 Prozent brach im August der Verkauf von Autos im Vergleich zum Vorjahr ein. 70 Prozent der Bauunternehmen haben ihre Arbeit an öffentlichen Projekten gestoppt, so gab dieser Tage der Branchenverband an. Selbst der Bau der Moschee auf dem Istanbuler Taksim-Platz – ein Prestigeprojekt des türkischen Staatschefs, um die Dominanz des Islams gegenüber der sichtbaren Kirche am Platz zu unterstreichen – scheint nun im Schneckentempo voranzugehen. Bauarbeiter sind kaum noch zu sehen.

Der Verfall der Lira treibt die Produktionskosten in der Baubranche wie in anderen Wirtschaftssektoren in die Höhe. Der Erzeugerpreisindex kletterte im Vormonat auf 32 Prozent. Noch geben die Unternehmen diesen Kostenschub nicht an die Verbraucher weiter. Preise in Restaurants, Supermärkten oder Modegeschäften haben angezogen, doch in der Regel bei weitem nicht in dem Umfang, wie die Kosten für die Hersteller wachsen. Für Türkei-Besucher ist das äußerst vorteilhaft, für die türkischen Konsumenten aber nur ein zeitversetzter Aufschub.

Inflation wird weiter steigen

Marktbeobachter in Istanbul rechnen im September mit dem Effekt der Erzeuger-Inflation vom Juli; bei 25 Prozent stand der Index vor zwei Monaten. Die Inflation bei den Verbraucherpreisen wird deshalb weiter steigen, ganz im Gegensatz zu dem, was der türkische Finanzminister den Bürgern versicherte. Das Schlimmste sei nun vorbei, sagte Berat Albayrak, als vergangene Woche die Zahlen für August bekanntgemacht wurden.

Albayrak, der erst seit Juli im Amt ist, beginne gleichwohl die Ernsthaftigkeit der Situation zu verstehen, so glaubt Atilla Yeşilada, der Ökonom. Nicht so jedoch Albayraks Schwiegervater, der türkische Staatspräsident Tayyip Erdoğan. "Unser Problem ist der Konflikt mit den USA", erklärt Yeşilada, ein Vertreter des auf die Schwellenländer spezialisierten Beratungsunternehmens Global Source Partners und ein Türkei-Analyst. Die USA hätten im Fall des Iran und Russlands gezeigt, welch schmerzhafte Wirtschaftssanktionen sie durchsetzen können. Erdoğan versuche nun, so lange wie möglich Widerstand zu leisten. Der türkische Präsident schlug etwa vor, den Handel mit der Türkei vom Dollar abzukoppeln.

Mit dem Rücken zur Wand

Energieeinfuhren aus Russland könnten künftig in Rubel abgerechnet werden, so glaubt die türkische Führung vielleicht. Doch sie steht mit dem Rücken zur Wand. "Wir haben noch fünf, vielleicht sechs Monate", sagt Yeşilada. "Wenn wir dann keine ausländischen Kredite erhalten, wird die Türkei ein riesiges Problem haben." Ankara müsse eine Lösung für den Streit mit den USA finden, andernfalls melden die großen türkischen Unternehmen Konkurs an.

Ob die Privatwirtschaft oder der Staat die Schuldenkrise verursacht, ist dann unerheblich. Die türkischen Verbindlichkeiten müssen am Ende bedient werden. Von Vorteil wird zunehmend sein, dass die öffentlichen Schulden mit 30 Prozent der Wirtschaftsleistung relativ klein sind. Ankara könnte also leicht Rettungskredite etwa beim Internationalen Währungsfonds aufnehmen.

Leitzinserhöhung steht an

Dieses Szenario schließt die türkische Führung allerdings wegen der damit verbundenen Reformauflagen kategorisch aus. Zumindest deutet nun viel auf eine Erhöhung der Leitzinsen hin, um Inflation und Währungsverfall zu bremsen. Am kommenden Donnerstag tritt das geldpolitische Komitee der türkischen Zentralbank zusammen. Sie steht unter der politischen Kontrolle des Staatschefs, so wurde in den vergangenen Monaten deutlich. Erdoğan sperrte sich bisher gegen eine restriktive Geldpolitik, weil sie Konsum und Investitionen drossele.

Eine deutliche Anhebung des einwöchigen Repo-Satzes von derzeit 17,75 Prozent – weniger als die Inflation – käme spät, aber hätte doch Signalwirkung. "Wir können die Rezession nicht vermeiden, aber wir können die Zeit vermindern, die wir in ihr verbringen", sagt Yeşilada. Löst die Türkei ihr Problem mit den USA, findet die Wirtschaft wieder das Vertrauen von Investoren und erhole sich rasch.

Drei Prozent Minus

In einer besonders pessimistischen Annahme schätzte die niederländische Bank ABN Amro den Einbruch der türkischen Wirtschaft im kommenden Jahr auf minus 3 Prozent. 8,2 Lira sagt sie für den Dollar voraus. Die türkische Währung machte zuletzt am vergangenen Freitag zwischenzeitlich zwei Prozent gut und fiel auf unter 6,50 zurück. Der Staatsanwalt im Prozess gegen den Pastor Andrew Brunson ist ausgetauscht worden, wurde bekannt. Das Strafverfahren gegen den 50-jährigen Amerikaner wegen angeblicher Staatsverschwörung und Unterstützung von Terrororganisationen könnte damit eine andere Richtung einnehmen. Die nächste Verhandlung gegen Brunson ist am 12. Oktober. Die USA fordern seine Ausreise. (Markus Bernath, 10.9.2018)