Jede vierte Familie in Österreich ist mit der Pflege von Angehörigen konfrontiert. Die Anzahl der potenziellen Pflegekräfte sinkt.

APA / Helmut Fohringer

Noch ist die Krankheit nicht ausgebrochen, auch wenn sie bereits unter der Oberfläche schwelt, diagnostiziert Tobias Thomas. Für den Direktor des Wirtschaftsforschungsinstituts Eco Austria ist es hoch an der Zeit zu handeln. Denn je eher die Therapie beginne, desto größer seien die Chancen auf Heilung.

Der Ökonom sorgt sich um Österreichs Pflege. In einer aktuellen Studie, die dem STANDARD vorliegt, hat er ihre Finanzierung unter die Lupe genommen. Und diese steht aus Sicht der Wirtschaftsforscher vor dem Hintergrund der alternden Bevölkerung auf äußerst wackeligen Beinen. "Es sollte noch in dieser Legislaturperiode mit Reformen begonnen werden."

Mehr als fünf Prozent der Österreicher brauchen Pflege. Statistisch gesehen ist jede vierte Familie hierzulande mit der Problematik der Hilfsbedürftigkeit Angehöriger unmittelbar konfrontiert.

Kein Verlass auf Familie

2016 summierten sich die öffentlichen Pflegeausgaben in Österreich Daten der OECD zufolge auf 4,3 Milliarden Euro. Das sind 1,2 Prozent des BIP. Bis 2060 werden sie sich auf gut 2,3 Prozent des BIP knapp verdoppeln, errechnete Eco Austria in seinem jüngsten Forschungspapier. Wobei der Anstieg der Pflegekosten noch erheblich kräftiger ausfallen könne, wie Institutsleiter Thomas betont. Er macht dafür zwei Treiber aus.

Der erste wurzelt in Österreichs geringer Geburtenrate. 1,5 Kinder weist die Statistik im Schnitt pro Frau aus, lediglich fünf EU-Länder haben niedrigere Raten. Was das für die Pflege bedeutet? Je weniger Nachwuchs vorhanden ist, desto weniger können Ältere auf innerfamiliäre Hilfe vertrauen.

Dazu kommt, dass gerade Frauen, die das Gros der Pflege Angehöriger schultern, zunehmend erwerbstätig sind. Sie stehen daher immer seltener für die Unterstützung älterer kranker Familienmitglieder zur Verfügung.

Weniger Pflegekräfte

In gleichem Ausmaß wie bisher werden aber auch Personenbetreuer in der 24-Stunden-Pflege nicht mehr verfügbar sein. Die Löhne in ihren Herkunftsländern wie der Slowakei und Rumänien steigen schon seit Jahren stärker als in Österreich. Die Bereitschaft, für oft sehr fordernde Jobs in der Pflege weiter zulasten der eigenen Familie ins Ausland zu pendeln, sinkt. Es sei denn, die Österreicher sind bereit, ihre Arbeit höher abzugelten.

Während das Angebot an Pflegekräften also abnimmt, lässt die demografische Entwicklung den Bedarf daran kräftig wachsen, was den Preis für die Leistung hebt.

Pflegegeldbezieher werden derzeit in Österreich überwiegend zu Hause betreut – von Angehörigen, die sich dafür teils professionelle Hilfe holen. In Heimen leben derzeit nur 16 Prozent. Im EU-Vergleich liegt Österreichs Anteil an informeller Pflege im Mittelfeld.

Nord-Süd-Gefälle

Eco Austria zeigt rund um Pflegemodelle ein Nord-Süd-Gefälle in Europa auf: Während im Norden die formelle, institutionalisierte Betreuung der älteren Generation überwiegt, spielt sie sich im Süden vor allem im familiären Kreis ab. Die öffentlichen Ausgaben dafür sind in Ländern wie Griechenland, Italien und Kroatien gering.

Österreich finanziert einen hohen Anteil der Pflegekosten über Steuern, ergänzt durch beträchtliche Selbstbehalte und private Eigenbeiträge. Erst jüngst wurde der Pflegeregress abgeschafft: Die öffentliche Hand darf seither nicht mehr auf das Vermögen der Heimbewohner zugreifen.

Unterm Strich ist die Pflege angesichts der zunehmenden Kosten langfristig nicht mehr gesichert, resümiert Eco Austria. Das Institut skizziert daher drei Reformmodelle: ein steuerfinanziertes System, ein umlagefinanziertes Sozialversicherungssystem und eine kapitalgedeckte Versicherungspflicht.

Versicherungspflicht

"Keine dieser Varianten hat nur Pluspunkte", betont Thomas. Die meisten Vorteile filtert er jedoch bei einer kapitalgedeckten Versicherungspflicht mit Solidarabsicherung heraus. Versicherte bauen hier über ihre Beiträge Kapital auf, das die Risiken des Pflegebedarfs deckt. Die Prämien für gesetzlich festgelegte Leistungen variieren je nach Versicherer. Diese müssen alle, die Anträge stellen, versichern. Stark belasteten Haushalten hilft die öffentliche Hand.

Es sei ein finanziell nachhaltiges, stabiles Modell, das unabhängig des demografischen Wandels funktioniere, sagt Thomas. Unterschiedliche Generationen würden nicht ungleich belastet.

"Spaltung des Sozialstaates"

Für Birgit Meinhard-Schiebel, Präsidentin der IG pflegender Angehöriger, führt es hingegen zu einer "völligen Entsolidarisierung". Es sei ein neoliberaler Ansatz, der den Sozialstaat spalte – zumal die Wohlhabenden einer Gesellschaft Pflege ohnehin anders finanzierten. "Bereits jetzt zahlen viele Familien bis zu 1500 Euro im Monat dazu. Künftig sollen sie sich also auch noch selbst versichern?"

Sie hält Umlagemodelle, die lebenslang höhere Steuersätze speisen, aufgrund ihrer Erfahrung aus der Praxis für weitaus klüger – was wiederum Thomas infrage stellt: "Umverteilung gelingt durch andere Methoden besser, etwa durch Einkommensbesteuerung."

Der Ökonom näherte sich dem sensiblen Thema nicht nur rein wissenschaftlich an, erzählt er. Er erinnere sich noch gut an die Pflege eigener Angehöriger. Was er sich für sich selbst im Alter wünscht: "Ein lebens- und menschenwürdiges Umfeld." (Verena Kainrath, 10.9.2018)